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ZEITZEUG*INNEN: INTERVIEW MIT DIRK ROTZSCH

INTERVIEW MIT DIRK ROTZSCH

zum Buch „1989 – Lieder unserer Heimat”

Welches Lebensgefühl verbindest du mit deinem Aufwachsen, deiner Kindheit und Jugend in der DDR?

Mit relativer Sicherheit – eigentlich absurd bei der allgegenwärtigen atomaren Bedrohung und der Militarisierung in der Gesellschaft. Aber als Kind braucht man wohl dieses Urvertrauen, das da einem suggeriert wurde. Später, als Jugendlicher, haben Verbote und deren Umgehung ja ziemlichen Charme, und wenn es nüscht gab, Verbote gabs genug. Heute bin ich manchmal erschrocken über meine Naivität: gestern wie heute gilt: traut keinen alten Männern!

Was wäre deines Erachtens bei deinem Heranwachsen anders verlaufen, wenn du nicht in der DDR groß geworden wärst?

Schwierig, meine familiäre Situation hat mich wohl mehr geprägt als die gesellschaftliche. Aber ich glaube schon, dass mein Leben anders verlaufen wäre. Selbst nach der Wende habe ich an Weggabelungen gestanden und die Entscheidung für den anderen Weg hätte mein Leben verändert, aber das Vergleichen ist der Beginn des Unglücklichseins.

Wie hast du das Leben in der DDR empfunden und verbracht?

Da übertriebene Gier nichts gebracht hätte, war das Verhältnis eher herzlich im Kleinen. Nur die gesellschaftliche Schizophrenie war sehr belastend für die Leute. Nicht wirklich sagen können, was wirklich ist. Als Schüler war es noch recht übersichtlich, aber ab der Lehre spürte man sehr schnell diesen Zwiespalt. Es gab mal ein Lied, das hieß: „Ich möchte in das Land, das in der Zeitung steht“ – das trifft es ganz gut. Aber heute ist es eigentlich schon wieder so.

An welche positiven Erlebnisse und an welche negativen Erfahrungen erinnerst du dich?

Privat gab es auf jeden Fall ein prägendes negatives Ereignis. Ansonsten sind es besonders Kindheitserinnerungen von endlosen Ferien, mit Urlaub in der Stadt bei meinen vielen Omas in Leipzig, Spitzbubenstreiche mit meinen Freunden in der Schule etc. Obwohl ich eigentlich ein bekennender „Drinni“ war und bin, war ich doch viel draußen.

Bist du mit der Staatsmacht und/oder mit der Stasi in Konflikt geraten?

Es war eher Folklore. Ende der 80er die (in meinem Text fürs Buch beschriebene) tägliche Polizeikontrolle. Ansonsten durfte ich 1987 in die UdSSR fahren und bekam vorher Besuch eines freundlichen Genossen, der mich diverse Dokumente ausfüllen ließ, die Verbote beinhalteten, keine Presseerzeugnisse mitzubringen. Ansonsten gab es die bestimmt, aber ich weiß es natürlich nicht und es hat mich im Nachgang nicht interessiert, ich war ja kein Revoluzzer.

Hast du Dinge getan oder nicht getan im Bewusstsein von der Stasi beobachtet und überwacht zu werden?

Nein, gab es nicht, nicht bewusst. Aber man hatte ja immer auch eine Schere im Kopf. Wir wussten jedoch alle, das irgendwo einer mitschreibt, teilweise wussten wir sogar wer. Ansonsten war ich natürlich auch sehr naiv.

Konntest du dich frei entfalten oder warst du Einschränkungen ausgesetzt und wenn ja, welchen?

Am meisten stand ich mir selber im Weg, was die Einschränkungen anging, aber das hat mich auch vor der Systemnähe geschützt.

Haben dich deine Eltern und Großeltern in dem, was du tust, unterstützt? Wie haben sie das Leben in der DDR wahrgenommen und gelebt?

Mein Vater hat, soweit es ihm möglich war, mich gehindert oder bewahrt, zu viel Ärger zu bekommen. Ich glaube, er war nicht wirklich glücklich mit einigen Dingen, die ich getan habe und es gab schon Differenzen. Aber ich war auch nicht wirklich so mutig, dass ich wirklich Stress bekommen hätte.

Welche Wünsche und Träume hattest du, die du entweder umsetzen oder eben nicht aufgrund des Staatssystems verwirklichen konntest?

Bei mir war es ja eher die auf Jugend beruhende Opposition und die konnte ich ausleben, aber ich wurde nie von anderen gehindert, da habe ich mich gehindert, weil ich nicht ehrgeizig oder nicht opportunistisch genug war.

Rückblickend und im Vergleich mit dem Leben im Hier und Jetzt: Was verbindest du mit dem Satz: „Es war doch nicht alles schlecht.” Was waren für dein Gefühl positive Aspekte im DDR-System?

Jetzt ist ja auch nicht alles schlecht, das Leben findet immer einen Weg, aber mit dem Satz kann ich nichts anfangen. Es kann ja immer alles besser sein und wenn es nicht gereicht hat, war es eben nicht gut genug.

Hast du dich nach Meinungs-, Presse-, Reisefreiheit und eigener Freiheit/Identität gesehnt und wenn ja, wie und in welchem Rahmen?

Ich fand es sehr befreiend, dass man während der Wende fast alles sagen konnte, und es ist trotzdem nicht zu einer Verrohung der Sitten gekommen. Das ist heute anders, heute riecht vieles wieder nach Kristallnacht.

„Wir hatten doch nüscht.” Hast du selbst die Plan- und Mangelwirtschaft als Mangelwirtschaft für deinen persönlichen Bereich empfunden?

Natürlich, in fast allen Bereichen, das gehört doch zur DNA der DDR. Damals störte mich, dass ich nicht alles lesen und hören konnte, was mich interessiert hatte. Aber man hat halt genauer hingehört und intensiver gelesen, bei dem was man bekam. Man hat alles aufgesogen wie ein Schwamm. Heute bewegen wir uns wie wasserabweisende Kugeln in einem Meer an Informationen.

„Für den Frieden und Sozialismus immer bereit!” Wie war es für dich uniformiert ein Halstuch oder ein FDJ-Hemd zu tragen und zum Appell anzutreten?

Ich war immer ein eher liederlicher Typ und habe immer etwas vergessen: Accessoires und auch Kommandos. Kein Akt des Widerstands, nur Schlampigkeit.

Wie hast du Unterricht und Schule erlebt?

Ich habe mich heute zufälligerweise mit meiner besseren Hälfte über das Thema unterhalten und konnte feststellen, dass ich an einer sehr liberalen Schule, gemessen an den Verhältnissen, war. In Halle war es krasser. Mein Literaturlehrer ist mir da in Erinnerung geblieben, der auch sehr heikle Themen, wie Vergewaltigungen von Sowjetsoldaten nach dem 2. Weltkrieg, angesprochen hat. Selbst unser Direktor, ein überzeugter Kommunist, ringt mir heute Respekt ab, auch wenn er uns damals mit seiner Sowjetunion-Liebe auf den Nerv ging.

Wie hast du die Masseninszenierungen, Sportwettkämpfe, Medaillen und Auszeichnungen empfunden?

Leider und zum Leidwesen meines Vaters war ich keine sonderliche Sportskanone, aber über meine Medaillen bei der Fußballspartakiade war ich stolz. Ansonsten haben die alten Herren wohl die Wirkung solcher Inszenierungen völlig überschätzt, wie heute die Kirche ihre Gottesdienste.

Wie waren für dich deine Ferien im FDGB-Heim?

Wenn wir das Glück hatten, einen Platz zu bekommen, hat man es mitgenommen, aber ich glaube, ich war früher mehr organisiert im Urlaub als heute.
Ferienlager mit der Schule oder mit dem Fußball fand ich spannend und war ok. Ich glaube, ich blende jetzt Fahnenappell etc. aus, weil ich mich da nicht dran erinnern kann.

Warst du Teil einer Jugend-, Oppositions- und Widerstands-Bewegung?

Ich war „Grufti“, ich mag den Begriff jedoch nicht. Aber nein, ich war kein Widerständler in dem Sinne, wirklich was riskiert zu haben, das Lob gebührt anderen. Es reicht nicht über Äußerlichkeiten kund zu tun: hier stimmt was nicht, genauso wie es heute nicht reicht das über Internetposts und Klicks bei Petitionen zu tun.

Wie haben für dich Musik, Kunst und Kultur das Leben in der DDR beeinflusst?

Auf jeden Fall mehr als heute, es lohnte sich genauer hinzuhören. In geschlossenen Gesellschaften liest man mehr zwischen den Zeilen, und ja, es war Lebenselixier. Wir haben viel lebhafter über Texte und Musik diskutiert.

Welche Bücher und Filme haben für dich einen bleibenden Eindruck und wohlige Gefühle hinterlassen?

Musikalisch auf jeden Fall The Cure – die hatten bestimmt keine Ahnung über den real existierenden Sozialismus, aber lieferten einen perfekten Soundtrack zu dieser Zeit. Mit Filmen war es schwieriger, man bekam ja nur das zu sehen, was abgesegnet war. Bei Büchern suchte man immer die Ungereimtheiten, wie zum Beispiel beim „Laden“ von Strittmatter. Und meinen Literaturhelden Albert Camus bekam man gar nicht, außer eine kommentierte Ausgabe von „Die Pest“. „1984“ von Orwell habe ich nur als Film und über den Umweg des Soundtracks zum Film kennengelernt, genauso wie die „Farm der Tiere“, das ich erst nach der Wende lesen konnte.

Kann deines Erachtens Zivilcourage die Gesellschaft ändern?

Natürlich, man darf sich nur nicht schämen, wenn es erst 20 Leute sind, irgendwann kann es eine Massenbewegung werden, im Guten wie im Schlechten. Und Zivilcourage kann es schon sein, auf den eigenen Vorteil zu verzichten: in der Bahn Platz machen, die Tür aufhalten und irgendwann die Welt zu einem besseren Ort machen. Der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.

Wie empfandest du bei den Montagsdemonstrationen den Übergang von „Wir sind das Volk” zu „Wir sind ein Volk”?

Ambivalent, aber ich war und bin ein linksromantischer Spinner.

Demokratieerfahrungen im vereinten Deutschland. Rechtspopulisten, besorgte und Wutbürger beanspruchen den Begriff „Wir sind das Volk“ jetzt für sich. Welche Assoziationen gehen für dich damit einher?

Absurd, die haben nur Abstiegsängste. Sorry, ich weiß, das man da differenzierter sein sollte, aber für mich hat das leider einen völlig anderen Zungenschlag, weil es ausgrenzt und am Ende könnte so etwas stehen wie: „Kauft nicht beim Juden!“

Ab 1989 wurden Mauern eingerissen und Grenzen abgebaut. Jetzt werden diese wieder aufgebaut. Wie nimmst du das wahr? Wie fühlt sich das für dich an?

Wenn man mehr hat, als man selber braucht, sollte man einen längeren Tisch bauen und keine Mauern. Natürlich ist das sehr viel komplexer, aber wenn man Wohlstand auf globalisierter Ausbeutung gründet, hat man verdammt nochmal eine Mitverantwortung oder konsequenterweise Mitschuld. Wer argentinisches Rindfleisch frisst, hat Schuld an der Klimaerwärmung – als ein Beispiel. Wir leben in einem ziemlich finsteren Zeitalter, wo jeder nachweislich weiß, woran es liegt, aber alle machen aus purem Egoismus mit und hinterher bauen wir eine Mauer, um die Folgen unseres Handelns abzuwehren – pervers und völlig sinnlos. Wenn wir da nicht umdenken, wird uns das ausnahmslos einholen, da wird keine Mauer helfen, Punkt!

Was können wir unseren nächsten Generationen als Erinnerungskultur, Auswertung und Aufarbeitung der DDR-Geschichte und unserer Historie ohnehin mit auf den Weg geben? Was können wir, was kann jeder selbst aus der Geschichte lernen?

Bei dem demenziell anmutenden Kurzzeitgedächtnis, das unsere Gesellschaft erfasst hat, wäre ein Langzeitgedächtnis utopisch. Wichtig wäre es, den Opportunismus zu überwinden, der hat sich leider gehalten und ist wieder der Motor der Gesellschaft. Ich glaube und hoffe aber, dass die junge Generation sich ihre Zukunft auf diesem Planeten nicht von uns alten Säcken kampflos verbauen lässt. Und die Älteren täten gut daran, dem Fortschritt, vor allem dem moralischen, nicht als Bremse zu dienen.

Lieben Dank für das Interview

DIRK ROTZSCH

Dirk Rotzsch, Neu-Hallenser mit sächsischem Migrationshintergrund (Geithain, Bad Lausick, Leipzig). Küchenleiter, Autor („Michel – Eine Generation frisst ihre Kinder“), Co-Autor („Liebe mit Laufmaschen“), diverse Anthologien. Ehemals Keyboarder bei RationV, Lament und Raum41.

Im Buch „1989 – Lieder unserer Heimat“ schreibt Dirk Rotzsch über: „GRUFTIES AUF DEM LAND – DIE WOLLEN NUR TRAURIG SEIN … und den Aufstand maximal andenken“ www.1989-unsere-heimat.de/buch-lieder-unserer-heimat

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