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ZEITZEUG*INNEN: INTERVIEW MIT STEPHAN MICHME

INTERVIEW MIT STEPHAN MICHME

zum Buch „1989 – Lieder unserer Heimat”

Welches Lebensgefühl verbindest du mit deinem Aufwachsen, deiner Kindheit und Jugend in der DDR?

Ich verbinde eher ein unbeschwertes kindliches Wohlgefühl mit dem Aufwachsen in der DDR. An Humor, Liebe und Wärme erinnere ich mich. Das hat sicher mit der Art und Weise zu tun, mit der meine Eltern uns durch diese Zeit „gecoacht“ haben. Bestimmte Ratschläge oder Erlebnisse bekamen erst im Nachhinein eine seltsame Bedeutung. Dazu fragt ihr bestimmt gleich noch mehr …

Was wäre deines Erachtens bei deinem Heranwachsen anders verlaufen, wenn du nicht in der DDR groß geworden wärst?

Der große Philosoph Lothar Matthäus sagte ja treffend: „Wäre, wäre Fahrradkette…“ Eine schöne Frage zum Rumspinnen. Wenn ihr auf ein Heranwachsen in der BRD abzielt, wäre ich irgendwas zwischen Millionen schwerem Fußballprofi und drogenabhängigem selbstzerstörerischem Schauspieler mit Ambitionen, in die Politik zu gehen geworden. Vielleicht auch nur ganz normaler Sportlehrer in Saab 9000 Cabrio und grünem Parteibuch … also wie sagte der große Philosoph L.M … 🙂

Wie hast du das Leben in der DDR empfunden und verbracht?

Als ich das Leben gelebt hab, war ich glücklich und sorgenfrei … aber ich war jung und hatte ein Umfeld, welches mich beschützt und versorgt hat. Die Familie war über allem und hat alles irgendwie geregelt. Von Bückwarenbesorgungen bis zur Glättung auch von kleinen politischen Verfehlungen (Verfehlungen aus der damaligen Sicht).

An welche positiven Erlebnisse und an welche negativen Erfahrungen erinnerst du dich?

Je ein Beispiel.
Positiv: Mein Vater legte sich mit dem gesamten Bildungsapparat bis zur mittleren Ebene an, damit ich zum Abitur zugelassen wurde. Als ich den Schriftverkehr nach seinem Tod fand und las, war ich erschüttert, stolz und sehr berührt.
Negativ: Mein Schuldirektor wollte mir das Abitur versauen, weil ihm meine Nase und/oder Frisur nicht gefiel. Ich sah auf dem Kopf aus wie fast jeder zweite zwischen 1985 und 1990 … irgendwas zwischen Martin Gore, Billy Idol und Robert Smith … albern, oder?

Bist du mit der Staatsmacht und/oder mit der StaSi in Konflikt geraten?

Wir hatten zwischen 1980 und 1985 regelmäßig „entfernte Verwandte“ zu Gast. Immer wenn mein Bruder und ich allein zu Haus waren, immer kurz vor und nach Reisen meiner Großeltern in den Westen. Es war offensichtlich, dass das IM Unsinn war. Meine Eltern haben uns exzellent vorbereitet. „Seid nett, antwortet auf jede Frage mit einer Gegenfrage zu Euren Hausaufgaben oder mit Erzählungen von euren Aktivitäten beim Sport oder Ähnliches …“ Sie haben nie gesagt, dass da auch was wirklich Schlimmes drohen könnte, nie die Stasi erklärt oder was ein IM ist. Im Nachhinein gleichermaßen clever, aber auch voller Vertrauen in Ihre Jungs. Klasse Eltern …<3 Vorbilder!
Um 1988/89 herum wurde ich auch mal wegen meiner Haare sowie meiner Gesellschaft und der komischen Musik wie B-52s, Sandow etc. in so einen seltsamen Lada gesperrt und befragt. Aber das wurden wir im Freundeskreis zu der Zeit fast alle mal.

Hast du Dinge getan oder nicht getan im Bewusstsein von der StaSi beobachtet und überwacht zu werden?

Nie bewusst … siehe oben …

Konntest du dich frei entfalten oder warst du Einschränkungen ausgesetzt und wenn ja, welchen?

Ich konnte mich frei entfalten. Zumindest hatte ich das Gefühl. Auf jeden Fall durfte ich nie etwas nicht machen … die Abiturgeschichte, war die erste und schlimmste, die mir für einige Zeit den Schlaf raubte. Heut bin ich sicher, dass es ab dann ohne Wende für mich öfter mal Probleme gegeben hätte.

Haben dich deine Eltern und Großeltern in dem, was du tust, unterstützt?

Meine Eltern haben mich vor und nach der Wende in allem 100% unterstützt! Die perfekte Mischung aus Freiraum und bestimmten Ratschlag haben sie für mich gefunden.

Wie haben sie das Leben in der DDR wahrgenommen und gelebt?

Sie waren wohl irgendwie zufrieden unzufrieden. Wie wohl die meisten. Mama bei der Post, Papa als Geophysiker … Zweimal Urlaub im Jahr. Im Sommer Ostsee oder ČSSR und im Winter Vogtland … zwei Söhne, einen Trabant, einige Westverwandtschaft, ne coole Hausgemeinschaft von Parteien, alle mit Kindern, man half sich und lebte mit Mängeln und Einschränkungen und machte es sich wohl irgendwie trotzdem gemütlich … irgendwie fast klassisch

Welche Wünsche und Träume hattest du, die du entweder umsetzen oder eben nicht aufgrund des Staatssystems verwirklichen konntest?

Ich war im perfekten Alter (18) zur Wende und konnte alles verwirklichen, worauf ich Bock hatte.

Rückblickend und im Vergleich mit dem Leben im Hier und Jetzt: Was verbindest du mit dem Satz: „Es war doch nicht alles schlecht.” Was waren für dein Gefühl positive Aspekte im DDR-System?

Ich kann Menschen verstehen, die diesen Satz sagen. Und ich kann genauso die Menschen verstehen, die diesen Satz nicht nachvollziehen können.

Hast du dich nach Meinungs-, Presse-, Reisefreiheit und eigener Freiheit/Identität gesehnt und wenn ja, wie und in welchem Rahmen?

Ich habe mich nie bewusst nach diesen Dingen explizit gesehnt. Hab mich aber auch nie bewusst eingeschränkt.

„Wir hatten doch nüscht.” Hast du selbst die Plan- und Mangelwirtschaft als Mangelwirtschaft für deinen persönlichen Bereich empfunden?

Erlebt hab ich es natürlich, ohne es als etwas Einschränkendes zu erleben. Dass wir Freitags ein „Spezialpaket“ beim Fleischer bekamen, weil Mama für die Verkäuferin Westkaffee hatte, habe ich erst relativ spät bemerkt und hab es dann eben als normal bewertet, weil es ja jeder irgendwie so machte. Wer kein Westzeugs hatte, hat eben schwarz gearbeitet oder in seinem Betrieb Dinge mitgehen lassen, um sich am „Tausche Heizung gegen Golf“-Spiel zu beteiligen.
Ich habe mich einmal fürchterlich geschämt, weil mein West-Onkel zwei ganze Bratwürste oder Salamis beim Fleischer kaufen wollte und sich mit der Verkäuferin stritt, weil diese ihm erklärte, dass sie nur ne halbe Wurst für jeden abgeben dürfe. Er hat das nicht kapiert und pöbelte rum, meine Eltern waren nicht dabei und überhaupt … dass er wohl nur mit nem Zehner West hätte winken müssen, um die halbe Theke zu bekommen, wusste er nicht, ich auch nicht, denn ich war 5 oder so.
Alles heute amüsant zu erzählen, die traurige und unmenschliche Komponente hinter diesem Spiel ist mir jetzt natürlich bewusst.

„Für den Frieden und Sozialismus immer bereit” Wie war es für dich uniformiert ein Halstuch oder ein FDJ-Hemd zu tragen und zum Appell anzutreten?

Hat mich nie gestört. Ich kann nicht mal erklären, warum. Ich bin in FDJ-Hemd, Iro und Boots unterwegs gewesen und fand das nicht schlimm. Wenn ich da heut drüber nachdenke … Oh Mann, was für ein groteskes Bild. Gesellschaftlich, emotional und politisch.

Wie hast du Unterricht und Schule erlebt?

Ich lerne und lernte immer gern. Ich mochte Schule.

Wie hast du die Masseninszenierungen, Sportwettkämpfe, Medaillen und Auszeichnungen empfunden?

Ich hab es nie als solches empfunden. Was aber wohl auch mit der eher kleinen rumpeligen POS zu tun hatte, an der ich war. Das wirkte alles da so gar nicht für Massen inszeniert :-). Zur Penne kam ich schon während der ersten Wendeanzeichen und Diskussionen … da ging es sehr kritisch ab … das war ne wilde Zeit.

Wie waren für dich deine Ferien im FDGB-Heim?

Wir waren nie in einem klassischen großen FDGB-Heim. Im Sommer auf dem Zeltplatz oder in der ČSSR und im Winter im Vogtland fast privat bei Leuten. Mit kleinem Frühstücksraum, in dem Westradio lief. Meine Eltern haben das immer lieber individuell geplant und durchgezogen.

Warst du Teil einer Jugend-, Opostions- und Widerstands-Bewegung?

Ich hing mit Punks ab und spielte gleichzeitig Fußball … ich weiß nicht 🙂

Wie haben für dich Musik, Kunst und Kultur das Leben in der DDR beeinflusst?

Extrem … besonders nach der Wende. Klingt bescheuert, ist aber so …

Welche Bücher und Filme haben für dich einen bleibenden Eindruck und wohlige Gefühle hinterlassen?

„Einer trage des anderen Last“, „Die Legende von Paul und Paula“, „Spur der Steine“, „Grüne Hochzeit“ … völlig unvollständig …

Wie ist heute dein Blick auf die DDR?

Differenziert und wahrscheinlich auch mit jedem Jahr etwas verschwommener …

Kann deines Erachtens Zivilcourage die Gesellschaft ändern?

Definitiv JA!

Wie empfandest du bei den Montagsdemonstrationen den Übergang von „Wir sind das Volk” zu „Wir sind ein Volk”?

Ich hab da das erste Mal eine Idee davon bekommen, wie nah Schön und Schrecklich sich sein können. Oder besser wie schnell aus Miteinander ein „Jeder für sich“ werden kann und unter Umständen in einem „Alle gegen alle“, „Jeder gegen jeden endet “ …

Demokratieerfahrungen im vereinten Deutschland. Rechtspopulisten, besorgte und Wutbürger beanspruchen den Begriff „Wir sind das Volk“ jetzt für sich. Welche Assoziationen gehen für dich damit einher?

Es macht mich sprachlos und mitunter sogar wütend. Aber meistens versuch ich es einfach anders und in meiner Version vorzuleben. Unermüdlich emphatisch optimistisch … ich glaube fest daran, dass es nur so geht.

Ab 1989 wurden Mauern eingerissen und Grenzen abgebaut. Jetzt werden diese wieder aufgebaut. Wie nimmst du das wahr? Wie fühlt sich das für dich an?

Beängstigend!

Was können wir unseren nächsten Generationen als Erinnerungskultur, Auswertung und Aufarbeitung der DDR-Geschichte und unserer Historie ohnehin mit auf den Weg geben? Was können wir, was kann jeder selbst aus der Geschichte lernen?

Empathie, Mut, Menschlichkeit, Optimismus und Liebe sind am Ende stärker als Hass!

Allerdings „Die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder“ (Vergniaud)

STEPHAN MICHME

1972 in Magdeburg geboren, Kindergarten, POS „Goethe Schiller“, EOS „Geschwister Scholl“ („daraus konnte nur ein naiver die Welt verbessern wollender Straßenköterpoet werden“) , verhinderter Sport- und Deutschlehrer, gestrandet auf Bühnen, im Fernsehen und im Radio … kleine Popstarkarriere mit SCYCS (einmal um die Welt mit zwei halben Hits), noch kleinere Erwachsenenmusikkarriere als Michme dauert bis heute an (auf DEN EINEN ganzen Hit wartet man noch) … im TV und vor allem im Radio wird seit 1994 bis heut alles moderiert, was fetzt, im Moment vor allem sehr früh morgens bei MDR Sachsen-Anhalt, Spitzname „Radiot“, Lebenstraum: „was wirklich Kluges schreiben, das trotzdem nach Popsong klingt“

Im Buch „1989 – Lieder unserer Heimat“ ist Stephan Michme im Interview über: „AUS MITEINANDER EIN „JEDER FÜR SICH““ www.1989-unsere-heimat.de/buch-lieder-unserer-heimat

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