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ZEITZEUG*INNEN: INTERVIEW MIT NANCY NILGEN

INTERVIEW MIT NANCY NILGEN

zum Buch „1989 – Lieder unserer Heimat”


Welches Lebensgefühl verbindest du mit deinem Aufwachsen, deiner Kindheit und Jugend?

Ich erinnere mich gern an meine Kindheit. Diese schönen Erinnerungen haben aber erst einmal nichts damit zu tun, in welchem Land ich geboren bin. Sie sind der Tatsache geschuldet, dass ich eine sehr liebevolle Familie habe und äußerst behütet aufgewachsen bin.

Was wäre deines Erachtens bei deinem Heranwachsen anders verlaufen, wenn du in einem anderen Gesellschaftssystem groß geworden wärst?

Als Heranwachsende lag die Wiedervereinigung bereits gut 10 Jahre zurück. Mit meinem Schulabschluss Anfang der 2000er wurde ich mit den wirtschaftlichen Folgen dieser konfrontiert und ich empfand es zu der Zeit als notwendig, meine Heimat zu verlassen. Alles um mich herum wirkte so destruktiv und deprimierend. Da wollte ich raus. Ob das anders gewesen wäre, wenn ich in den alten Bundesländern groß geworden wäre, kann ich natürlich nicht mit Gewissheit sagen.

Wie haben deine Eltern und Großeltern das Leben in der DDR wahrgenommen und gelebt?

Meine Eltern und Großeltern haben das Leben in der DDR recht unterschiedlich wahrgenommen. Während mein Opa beispielsweise Parteimitglied war und überzeugt von den Ideen des Sozialismus, fiel es seiner Tochter, also meiner Mutter, wesentlicher schwerer sich anzupassen. Sie sagt heute, dass sie es trotzdem tat, weil sie Sorge hatte, dass ihre Kinder und Familie unter Restriktionen leiden könnten, falls sie es nicht getan hätte. Streitigkeiten und Diskussionen zwischen den beiden gab es deswegen aber wohl öfter.

Was verbindest du mit dem Satz: „Es war doch nicht alles schlecht.”

Mich persönlich nervt dieser Satz und ich kann ihn von meiner Warte aus nicht nachvollziehen. Ich verstehe, dass es einigen ehemaligen DDR-BürgerInnen darum geht, ihre Lebensleistung anzuerkennen. Das finde ich auch wichtig und man sollte in der öffentlichen Erinnerungskultur unbedingt daran arbeiten. Aber doch bitte nicht, indem man einen totalitären Staat romantisiert.

Was waren für dein Gefühl positive Aspekte im DDR-System?

Man erinnert sich heute gern an die damalige soziale Absicherung und die Gesetzgebung, die es Frauen erlaubt hat, selbstbestimmter zu sein. Stichwort: das damalige Abtreibungs- oder Scheidungsgesetz. Der Schein trügt aber, wie so oft. Dass die Frauen in der DDR der Doppelbelastung Arbeit und gleichzeitig Kindererziehung ausgesetzt waren, vergisst man heute dabei gern. Das soll aber nicht heißen, dass die Gesetzgebung in der Bundesrepublik diesbezüglich besser war oder ist. Aktuelle Debatten beweisen das.

„Für den Frieden und Sozialismus immer bereit” Wie war es für dich uniformiert ein Halstuch oder ein FDJ-Hemd zu tragen und zum Appell anzutreten?

Ich war Jungpionierin und zu dieser Zeit war ich wahnsinnig stolz darauf. Ich habe mich erst viele Jahre später damit auseinandergesetzt und reflektiert. Als kleines Kind konnte ich das freilich nicht. Heute finde ich es erschreckend, dass man so hingebungsvoll Teil dieser Struktur sein kann und ich frage mich nicht unkritisch, welchen Weg ich eingeschlagen hätte, hätte die DDR so noch länger existiert.

Wie hast du Unterricht und Schule erlebt?

Ich fand es damals toll. Ich bin gern zur Schule gegangen, weil ich mit meinen Freunden und Freundinnen zusammen sein konnte. Ich war zu jung, um den Unterricht, der natürlich ideologisch aufgeladen war, als solchen zu erkennen.

Wie hast du die Masseninszenierungen, Sportwettkämpfe, Medaillen und Auszeichnungen empfunden?

Fand ich als eher unsportliches Kind schrecklich. Ich gehörte immer zu den schlechtesten TeilnehmerInnen und ich konnte nicht verstehen, warum man so großen Wert darauf gelegt hat.

Wie ist heute dein Blick auf die DDR?

Sehr kritisch und anders sollte er meiner Meinung nach auch nicht sein.

Kann deines Erachtens Zivilcourage die Gesellschaft ändern?

Zivilcourage empfinde ich als die beste aller Formen, eine Gesellschaft zu ändern.

Demokratieerfahrungen im vereinten Deutschland. Rechtspopulisten, besorgte und Wutbürger beanspruchen den Begriff „Wir sind das Volk“ jetzt für sich. Welche Assoziationen gehen für dich damit einher?

Es macht mich wütend und traurig. Als das vor einigen Jahren losging, war mein Vater, der die Montagsdemos 89 in Leipzig miterlebt hat, so empört darüber, dass er jedes Mal vor Wut Tränen in den Augen hatte, wenn wir darüber sprachen.

Ab 1989 wurden Mauern eingerissen und Grenzen abgebaut. Jetzt werden diese wieder aufgebaut. Wie nimmst du das wahr? Wie fühlt sich das für dich an?

Ich finde es natürlich schrecklich. Ich hatte das Glück in meinem bisherigen Leben, den Abbau von Grenzen mitzuerleben. Das sich das jetzt wieder ändert, kann und möchte ich nicht akzeptieren.

Was können wir unseren nächsten Generationen als Erinnerungskultur, Auswertung und Aufarbeitung der DDR-Geschichte und unserer Historie ohnehin mit auf den Weg geben? Was können wir, was kann jeder selbst aus der Geschichte lernen?

Sowohl als Historikerin als auch als Zeitzeugin habe ich ein tiefes Bedürfnis, die Erinnerungskultur aktiv mitzugestalten. Vieles muss sich da einfach noch ändern, vor allem was die öffentliche Wahrnehmung angeht. Es ist so wichtig, dass wir uns mit unserer Geschichte auseinandersetzten und damit meine ich nicht nur ehemalige DDR-BürgerInnen. Auch mit den Jahren nach 89 und 90 muss man sich kritisch befassen, um die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen zu verstehen.

NANCY NILGEN

Nancy Nilgen wurde 1982 in Naumburg/Saale geboren. Sie studierte in Leipzig Kulturwissenschaften und Neuere Geschichte und verfasst aktuell ihre Doktorarbeit zur Geschichte der Koch- und Ernährungsgewohnheiten in der DDR.

Im Buch „1989 – Lieder unserer Heimat“ schreibt Nancy Nilgen über: „DER GENÜGSAME UMGANG MIT LEBENSMITTELN DDR-Kochbücher als ideologische Trojaner“ www.1989-unsere-heimat.de/buch-lieder-unserer-heimat

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