Autor: admin764

  • „VORWÄRTS IMMER!“

    „VORWÄRTS IMMER!“

    LIEDTEXT

    „Vorwärts immer!“

    Von Schwarwel

    Neunzehnhundertneunundachtzig –
    So siehts für mich aus:
    Ossis in der Westvertretung
    Wollen endlich raus

    Treibhausgase, Meeresspiegel –
    Das Polareis taut auf
    Proteste auf dem Wenzelsplatz
    Die Polizei haut drauf

    Menschenjagd in Florida
    Cops töten Schwarzen Mann
    Gewalt entbrennt in Miami
    Jetzt sind die Cops mal dran

    Leipzig geht den Schweigemarsch
    „Pressefreiheit jetzt!“
    Vopos knüppeln mittenrein
    Nehmen Demonstranten fest

    Vorwärts immer!

    Noch ist Polen nicht verloren
    Mehrheitsvotum steht
    Kommunisten – Pluralisten
    Solidarność geht … okay!

    Urteilsspruch in Westdeutschland
    Anschlagsziel Dornier
    Deutscher Albtraum RAF
    Warnt vorher den Portier

    Vorwärts immer!

    Reagan reicht den Staffelstab
    Weiter an George Bush (Senior!)
    Ungarns Kommies geben auf
    Hier hört man keinen Tusch (Hey!)

    Medwedew nutzt Staatsorgan
    Für Fakt und Wirklichkeit
    Stalinopfer fünfzehnfach
    Millionen Mal im Leid

    Vorwärts immer!

    Polens Kommunisten räumen
    Ihren Tisch komplett
    Fatwa gegen Salman Rushdie
    Kriegsrecht im Tibet

    Václav Havel, „Exxon Valdez“,
    Abdullah al-Ahdal
    Moskau räumt Afghanistan
    Ozonschicht? Kann uns mal!

    Vorwärts immer –
    Rückwärts nimmer!

    „Den Sozialismus in seinem Lauf
    Halten weder Ochs noch Esel auf“

    Moskau macht auf freie Wahlen
    Peking schießt auf Kind
    Ostberlin muss sich entscheiden,
    Ob wir Menschen sind

    Montagsdemo, Herbst im Kommen
    Und ich mittendrin
    Einundzwanzig, keine Ahnung
    Ich such noch nach dem Sinn

    Vorwärts immer –
    Rückwärts nimmer!

  • ZEITZEUG*INNEN: INTERVIEW MIT ROMAN SCHULZ

    ZEITZEUG*INNEN: INTERVIEW MIT ROMAN SCHULZ

    INTERVIEW MIT ROMAN SCHULZ

    zum Buch „1989 – Lieder unserer Heimat”

    Welches Lebensgefühl verbindest du mit deinem Aufwachsen, deiner Kindheit und Jugend in der DDR?

    Ein relativ normales, so wie Kindheit mit vielen wunderschönen Erlebnissen in der Familie halt ist. Die familiäre Geborgenheit war ein wichtiges Fundament. Schule hat mich meistens angestrengt, obwohl ich bis zum letzten Tag gern dort war. In der Jugend wurde ich schon leicht nachdenklicher und die Sehnsucht nach der weiten Welt kam langsam auf. Der Frust und das Gefühl der Unfreiheit kam erst ab dem jungen Erwachsenenalter.
    Ich hatte so ab 14/15 wahnsinnig viel gelesen … Hesse, Feuchtwanger … auch viele Amerikaner von Kerouac über Steinbeck bis Updike. Es war nicht vordergründig eine politische Unzufriedenheit, ich wollte eher irgendwie frei sein. Für rebellische Aktionen irgendwo in der Welt hatte ich meistens eine gewisse Sympathie. Dazu kam dann noch Musik. Dylan, Young und auch Springsteen haben mich mit Sicherheit stark geprägt, später Punk und New Wave, übrigens bis in heutige Tage. Ich bekam so eine Art innere Angst, Dinge in der Welt nie sehen zu können.
    Als ich 2016!!! in den BADLANDS (South Dakota) war, hat sich der Kreis nach 40 Jahren geschlossen. Ich hätte vor Freude schreien und heulen können, ich hatte bestimmt Tränen in der Augen.

    Was wäre deines Erachtens bei deinem Heranwachsen anders verlaufen, wenn du nicht in der DDR groß geworden wärst?

    Kann ich schwer einschätzen. Vom Charakter her war ich eher aufgeschlossen, an vielen Dingen interessiert … hatte immer mal die große Klappe und habe mich nur ungern untergeordnet. Ich war nicht immer der Liebling meiner Lehrer. Ich wollte mich nicht immer so einfach einordnen lassen. Das war eigentlich weniger politisch, vielmehr vom Temperament her. Wäre vermutlich im Westen auch so gewesen. Meine Eltern habe ich bestimmt auch öfters in Unruhe gebracht. Wie wäre das wo anders gewesen? Kluge Frage …

    Wie hast du das Leben in der DDR empfunden und verbracht?

    Eigentlich hatte ich eine, wie man sagt, gut behütete Kindheit. Ich konnte mir die Zeit ohne Internet, Handy und Computer super vertreiben und hatte auch ständig irgendwelche Ideen im Kopf. Manchmal bin ich tagelang mit der Straßenbahn durch das damalige Netz gefahren. Es waren die herrlich offenen Wagen. Ich wollte alle Ecken und Winkel in LE erkunden. Im Sommer haben wir zum Beispiel Hummeln gefangen und in Marmeladengläsern gesammelt. Im Winter waren wir auf dem Scherbelberg bis die Fußzehnen vor Kälte brannten. Zu Chemie nach Leutzsch zog es mich auch. Bei meiner Oma im Vogtland waren die Ferienaufenthalte immer ein Abenteuer. Vom an den Handwagen angespannten Hund bis zum ersten Katapult …, Lederhose, Taschenmesser und robuste Schuhe … mehr brauchten wir nicht. Erst später wurde die DDR eher zu einer mausgrauen Bleiweste.

    An welche positiven Erlebnisse und an welche negativen Erfahrungen erinnerst du dich?

    Ich war ständig draußen. Wir sind um die Blöcke gezogen, haben auf verschiedenen Plätzen Fußball gespielt, später an bestimmten Treffpunkten mit der Clique rumgelungert … Musik gehört …
    Es ist so im Leben, man behält stärker die positiven Dinge in Erinnerung. Wir konnten uns als Generation noch mit uns selbst beschäftigen. Mediale sowie materielle Dinge spielten de facto fast keine Rolle. Wir konnten uns über ein Matchbox für 1,10 DM aus dem Intershop mehr freuen als vermutlich heute manche Kinder über ein neues Handy. Negative Erfahrungen gab es natürlich auch zur Genüge, an anderer Stelle mehr dazu.

    Bist du mit der Staatsmacht und/oder mit der StaSi in Konflikt geraten?

    Weniger politisch mit der Staatsmacht, aber eigentlich ging es schon in der Schule am ersten Tag los. Als Linkshänder wurde ich relativ konsequent zum „Rechtsschreiben“ umerzogen. Dann haben sich aber genau diese Typen über meine Handschrift aufgeregt. Bis mir irgendwann der Kragen geplatzt ist und ich ab der 3. Klasse immer geantwortet habe: Hätten sie mich doch vernünftig Schreiben lassen!
    Wie schon angedeutet, mit fiel das Unterordnen nicht leicht. Dann ging mir der ganze Pionier- und FDJ-Klamauk auf die Nerven. Ich war einfach ein schwieriger Schüler. Das war nicht mein Ding, um es mit Udo zu sagen.
    Problematisch wurde für mich der Russischunterricht ab Klasse 5. Den habe ich regelrecht gehasst. Ich weiß, Hassen ist keine besonders gute Eigenschaft. Aber bei aller Auffassungsgabe in viele Bereichen, hatte ich immer Probleme mit dem Fremdsprachenlernen und dann kam „Russisch nach der Holzhammermethodik“. Und als umerzogener Linkshänder konnte ich die russischen Wörter selbst nach 10 Jahren nur schwer schreiben. Das „Zwangsrussisch“ hat mir dann jeden Abschluss, von der POS über das Abi bis zur Uni, verdorben! 1985 kam es wegen meines Universitätsexamens bei der feierlichen Exmatrikulation fast zum Eklat. Da entwickelte sich dann auch langsam aber sicher eine gewisse politische Komponente. Mit diesem Thema habe ich eigentlich abgeschlossen und möchte es auch nicht mehr aufmachen. Russischen Boden werde ich jedenfalls freiwillig nie betreten.

    An Stasi hatte ich bis zum Studium nie besonders gedacht.
    Konflikt mit der Staatsmacht? Klingt irgendwie eine Nummer zu groß für mich. Eine kleine Geschichte noch. Wir wohnten 1988 in Hartmannsdorf, einem Vorort von Leipzig. Am Dorfende war Schluss, dann nur noch Tagebau. Über unser Grundstück ging von Haus zu Haus die alte Telefonfreileitung und im Wohnzimmer war an der Wand ein Relaiskasten, der ständig laut klickte. Selbst hatten wir aber kein Telefon. Da habe ich an das Postministerium geschrieben, dass mich die Kiste nervt und entweder kommt sie raus und die Leitung weg oder wir bekommen Telefon. Als Reaktion wurde ich in das Fernmeldeamt LE in der Hauptpost einbestellt. Da hat sich dann so ein „Obertelefonguru“ ziemlich aufgeregt. Junger Lehrer, was mir einfällt, mich zu beschweren, Sozialismus, Verständnis, Dringlichkeitslisten … war mir egal. Ich blieb bei Leitung und Kasten weg oder Telefon. Nach etwa einem halben Jahr war das Telefon da!

    Hast du Dinge getan oder nicht getan im Bewusstsein von der StaSi beobachtet und überwacht zu werden?

    Die Enge der DDR wurde mir erst im Studium so richtig bewusst. Natürlich war mir das System auch schon aus der Abizeit klar, aber bewusst aufgepasst habe ich erst später. Man hat Spitzel vermutet, war bei bestimmten Dingen vorsichtig und hat sich mit bestimmten Themen auf einen sehr engen Freundeskreis beschränkt.
    1982 im Zusammenhang mit Solidarność und dem Kriegsrecht in Polen verweigerte ich an der Uni die Verpflichtung als Reserveoffizier der NVA. Da gab es mehrere unschöne Gespräche bis hin zur Androhung der Exmatrikulation. Klingt wie im Kino, selbst eine junge Kommilitonin sollte sich als „Genossin im Auftrag der Partei …“ , aber sie war nicht mein Typ. Heute lacht man darüber.
    Inzwischen kenne ich mehrere Spitzel aus unserer Studienzeit.

    Konntest du dich frei entfalten oder warst du Einschränkungen ausgesetzt und wenn ja, welchen?

    Freie Entfaltung oder Einschränkungen? Das kann ich so einfach nicht beantworten. Eine freie Entfaltung war es bestimmt nicht, aber Einschränkung? Wer wie ich in der DDR studiert hat, auch wenn es nicht das war, was ich eigentlich wollte, sollte wohl nicht von Einschränkungen reden. Das wäre sehr, sehr unfair gegenüber denen, die richtig – ob im Knast oder durch Berufsverbote oder durch Dauerüberwachung, Zwangsabschiebung … – gelitten haben. Die verdienen Respekt, nicht ich!
    Während des Studiums hatte ich so manche „Audienzen“ bei der Sektionsleitung. Aber ich sage es mal so, die waren analog meiner Schulzeit eher meiner großen Klappe geschuldet. Später, ab 1985 im Schuldienst war man einfach vorsichtig, hat immer situativ die Dinge ausbalanciert. Irgendwann Anfang 1989 wurde man dann in kleiner Runde offener, hat sich mit wenigen Gleichgesinnten zurückgezogen. Ab Anfang September 89 dann die Montagsdemonstrationen …Verlauf ist ja bekannt.

    Haben dich deine Eltern und Großeltern in dem, was du tust, unterstützt? Wie haben sie das Leben in der DDR wahrgenommen und gelebt?

    Teils Teils. Besorgt waren um mich alle. Unterstützung kam aber hauptsächlich von meiner Mutter. Mein Vater, privat ein Supertyp, hatte politisch eine etwas andere Meinung als ich. Die Familie spielte aber eine große Rolle.

    Meine Großeltern (auch die meiner Frau) waren die Vertreter der Kriegsgeneration, geprägt durch ein brutal hartes Leben. Sie erlebten erst Krieg, dann Ostzone, dann DDR, aber blieben anständig und fleißig bis zum Schluss. Vertrieben aus Danzig nach Weimar, private Fleischerei im Vogtland verloren … Überleben im Vogtland … was soll man da sagen. Da war Arbeit Lebensgrundlage. Harte 50er und 60er Jahre – Nix mit Work-Life-Balance, nix Kurztrip nach London, nix mit veganer Ernährung. Meine Großmutter war froh, wenn sie in den 60er Jahren ein Stück Hammel aufgetrieben hatte.
    Meine Lieblingsgroßmutter starb 2007 mit fast 99 Jahren. Was sie erlebt hatte: 2 Weltkriege, vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, fast 10 Währungsreformen …
    Ich verneige mich mit Respekt vor der Eltern- und Großelterngeneration.

    Welche Wünsche und Träume hattest du, die du entweder umsetzen oder eben nicht aufgrund des Staatssystems verwirklichen konntest?

    Natürlich hatte ich Bilder der weiten Welt im Kopf, aber eigentlich war ich kein großer Träumer, was den Beruf angeht. Vielmehr habe ich versucht zu machen, was möglich war. Ich lebte ja nicht in der Annahme, dass 1989 Schluss mit dem Sozialismus sein würde. Also ging es eher Schritt für Schritt vorwärts. Kannst du nicht das machen, machst du was anderes, wirst 1976 bis 79 Buchbinder. Vorgesehen vom Graphischen Großbetrieb Interdruck für ein Polygraphiestudium sollte es Medizin nicht sein, okay dann umgelenkt auf Lehramt. Wenn sie dich dann rausschmeißen, hast du wenigstens einen soliden Beruf, dachte ich pragmatisch. Mal sehen, was kommt. Ich wäre gern in der Forschung an der Uni geblieben, aber dafür Parteieintritt, Freunde verleugnen, nicht mehr in den Spiegel schauen können??? Ich kannte den Preis und den wollte ich nicht zahlen. Ohne Frust und Gram, diese Spiel war nicht meins. Dann kam 1985 die POS „August Bebel“ in Leipzig. Und dann der Herbst89.

    Rückblickend und im Vergleich mit dem Leben im Hier und Jetzt: Was verbindest du mit dem Satz: „Es war doch nicht alles schlecht.” Was waren für dein Gefühl positive Aspekte im DDR-System?

    „Es war doch nicht alles schlecht.” Ich denke der Satz ist grundsätzlich nicht so falsch. Aber er ist leider so verkürzt, dass er am Thema vorbei geht.
    Nur sollte man sich davor hüten, durchaus vorhandene positive Dinge aus der DDR singulär und losgelöst zu betrachten. Medaillen mit nur einer Seite gibt es nicht.
    Kurzes Beispiel DDR-Schule: Natürlich war die DDR-Schule in einzelnen Bereichen/Aspekten vom Leistungsgedanken und Niveau der Wissensvermittlung gut, ohne Zweifel.
    Aber man muss auch dazu betonen, die Schule war politisch durchorganisiert, undemokratisch und teilweise totalitär. Kinder wurden aussortiert, über Pioniere und FDJ politisch indoktriniert. Wer sich auflehnte, für den war sehr schnell Schluss mit lustig. Dies wird leider in heutigen Vergleichen zu häufig verdrängt.
    Noch ein zweites Beispiel: Wohnungsbauprogramm, LE Grünau … sah doch gut aus. Alle hatten es warm und trocken. Aber zeitgleich der Verfall ganzer historischer Stadtviertel …
    Daher neige ich eher zur Gesamtperspektive.

    Hast du dich nach Meinungs-, Presse-, Reisefreiheit und eigener Freiheit/Identität gesehnt und wenn ja, wie und in welchem Rahmen?

    Ja zunehmend, wie gesagt spätestens ab der Studienzeit bis hin zum Ausreisegedanken irgendwann Ende 1988, Anfang 1989. Wir haben anfänglich versucht, die Möglichkeiten im Ostblock auszuleben. Anfang der 80er Jahre sind wir immer im Sommer nach Bulgarien mit dem Zug, zurück auch per Anhalter. Wenn man dann im Süden an der Grenze zur Türkei war … da muss ich nichts mehr sagen. Oder bei der Rückfahrt in einem LKW aus Bayern, wenn du dann in Ungarn irgendwo vor der österreichischen Grenze raus musst …
    In punkto Meinungsfreiheit waren für mich die Solidarność-Bewegung ab 1981 sowie die Sprengung der Paulinerkirche Schlüsselerlebnisse. Über beide Themen herrschte an der damaligen Karl-Marx-Universität Redeverbot.
    Der Umgang mit wissenschaftlicher Literatur, die Zensur sowjetischer Schriftsteller sowie das verhinderte BAP-Konzert 1984 verstärkten meine Zweifel am realen Sozialismus.
    Als ich dann 1985 als junger Lehrer (mit Bart und auch noch längeren Haaren, da hatte ich noch welche) an einer Schule im Leipziger Osten anfing, wurde es problematisch. Irgendwie musste ich ständig innerlich balancieren. Aber meine Schüler, und ich sehe das hoffentlich heute nicht verklärt, konnten mit mir schon gut. Und Bekenntnisse zum Sozialismus waren eher Mangelware. Ich habe eigentlich in jeder Stunde versucht, so weltoffen und nicht indoktrinierend zu arbeiten, wie möglich.

    „Wir hatten doch nüscht.” Hast du selbst die Plan- und Mangelwirtschaft als Mangelwirtschaft für deinen persönlichen Bereich empfunden?

    Wir hatten aus heutiger Sicht tatsächlich weniger, viel weniger. Aber wir hatten gleichzeitig deutlich mehr als nüscht. Das Anspruchsdenken, der Lebensstandard sowie die eigene Wünsche (siehe oben Matchbox – Handy) waren nicht zu vergleichen.
    Und was man nicht hatte, musste man sich irgendwie organisieren. ORGANISIEREN war eine der Hauptbeschäftigungen in der DDR. Es zählten auch die eigenen Wahrnehmungen und das individuelle Lebensgefühl.
    Mit einem 13 Jahre alten Trabant, Essensvorräten sowie Flaschenbier, welches nach drei Tagen angefangen hat zu leben, hatten wir 1986 mit Freunden am Bergwitzsee oder in Pilsen nicht weniger Spaß als 2012 mit einem Superwohnmobil im Grand Canyon. Ich sehe auch rückschauend das Leben immer im zeitlichen Kontext.

    „Für den Frieden und Sozialismus immer bereit” Wie war es für dich uniformiert ein Halstuch oder ein FDJ-Hemd zu tragen und zum Appell anzutreten?

    Kurz gesagt: Grausam, damit hatte ich nichts am Hut und der ganze Kram war mir zuwider. Ich fand an dem Gruppenzwang einfach keine Freude.

    Wie hast du Unterricht und Schule erlebt?

    Dazu habe ich ja schon einige Sätze verloren. Aber in die Schule bin ich echt gern gegangen. Sie war eine Art Treffpunkt, man hat dank guter Lehrer in einigen Fächern auch was gelernt, dank schlechter Lehrer und mangels Disziplin auch viel Ärger bekommen. Schule in der Zeit von 1966 bis 79 war auch noch anders geartet. Sie war noch stärker eine Erziehungsanstalt, nicht nur in der DDR. Da muss man nur an die Hofpausen denken. In den ersten Jahre ging es da noch in Reihen im Kreis über den Schulhof. Im Unterricht war mir oft langweilig, da ich, wie mir immer in den Zeugnissen bescheinigt wurde, mit der Auffassungsgabe keinerlei Probleme hatte. Dafür versuchte ich es mit Ablenkungen, was den Lehren nicht gefallen hat. Ich war froh über Halbjahre ohne Tadel und Verweise.
    In meinen Lehrerjahren war meine eigene Schulzeit mein innerer Kompass.

    Wie hast du die Masseninszenierungen, Sportwettkämpfe, Medaillen und Auszeichnungen empfunden?

    Da war ich „leider“ oder zum Glück nie dabei. Dank meiner Betragensnoten kam ich auch nie in den Genuss irgendwelcher Bestenabzeichen.

    Wie waren für dich deine Ferien im FDG-Heim?

    Ich war einmal mit meiner Lieblingsgroßmutter hinter Erfurt in Thüringen zu so einem Urlaub. Ich durfte zum Abendessen Bier trinken und war (noch in der Pubertät) in eine richtig hübsche Blondine verschossen.

    Warst du Teil einer Jugend-, Opostions- und Widerstands-Bewegung?

    Nein, nicht wirklich und nicht im organisierten Sinn in Umwelt-, Kirchen- oder anderen Gruppen.

    Welche Bücher und Filme haben für dich einen bleibenden Eindruck und wohlige Gefühle hinterlassen?

    Sehr viele Bücher, Lesen war meine Welt, hauptsächlich von … Bulgakow, Aitmatow, Pasternak …, Feuchtwanger und Hesse dazu die großen amerikanischen Romanciers und Kerouac!
    Filme: „Doktor Schiwago“ – da war ich hoffnungslos in Lara verliebt, „Es war einmal Amerika“ mit Robert de Niro sowie „Spiel mir das Lied vom Tod“ und „natürlich „Bullitt“ mit Steve Mc Queen.
    Den Film „The last Walz“ vom legendären Finale von The Band aus dem San Franzisco Winterland kannten wir auswendig. Damals konnte man im Kino Capitol noch rauchen. Also Kippen und Bier … und abtauchen in eine fantastische, aber für uns leider unerreichbare Welt.

    Wie ist heute dein Blick auf die DDR?

    Mit eigentlich wenig Groll. Ich hatte viel Glück und habe sie mit „29 verlassen“. Die Kindheit war DDR-unabhängig schön und ich hatte nur wenige Erwachsenenjahre in der DDR verbracht. Ich lebe aktuell im Alter von 58 genauso lange in Freiheit wie in der DDR, jeweils 29 Jahre.
    Meine beiden Kinder sind in Freiheit aufgewachsen. Vermutlich würde ich es anders sehen, wenn ich die Deutsche Einheit, sagen wir mit 50 oder 60 erst erlebt hätte, aber so: ALLES GUT, also nicht die DDR.

    Kann deines Erachtens Zivilcourage die Gesellschaft ändern?

    Klare Antwort: Ja, ja und wieder ja.

    Wie empfandest du bei den Montagsdemonstrationen den Übergang von „Wir sind das Volk” zu „Wir sind ein Volk”?

    Da könnte ich Seiten schreiben, aber ich belasse es bei einer kurzen Aussage.
    Der gesamte Prozess vom Sommer 89 an war wie ein unglaublicher Traum in einem rasanten Tempo. Ich merkte irgendwann um Weihnachten 1989, dass hier wirklich eine Revolution abgeht. Da dachte ich, Mensch hast du ein Glück, das zu erleben. Ich war damals ehrlich gesagt auch kein Fan von weiteren Experimenten und der Suche nach dem Dritten Weg oder dem reformierten Sozialismus.
    Ich war pragmatisch nach der Art, der Westen funktioniert so ganz gut, ist nicht perfekt, aber 1000mal besser als das was wir hatten und ob Experimente was bringen???

    Demokratieerfahrungen im vereinten Deutschland. Rechtspopulisten, besorgte und Wutbürger beanspruchen den Begriff „Wir sind das Volk“ jetzt für sich. Welche Assoziationen gehen für dich damit einher?

    Das passt nicht zusammen. Das ist eine völlig andere historische Konstellation 1989 gewesen. In einer Diktatur auf die Straße zu gehen, erforderte Mut und eine Menge an Courage. Die heutigen Schreihälse können ihr Theater eigentlich nur abhalten, weil sie alle freiheitlichen Grundrechte besitzen. Aber deren Horizonte sind oft so begrenzt, dass sie das nicht sehen oder sehen wollen.

    Ab 1989 wurden Mauern eingerissen und Grenzen abgebaut. Jetzt werden diese wieder aufgebaut. Wie nimmst du das wahr? Wie fühlt sich das für dich an?

    Einfach schlimm, mehr muss ich nicht sagen, das ergibt sich aus meiner Geschichte.

    Was können wir unseren nächsten Generationen als Erinnerungskultur, Auswertung und Aufarbeitung der DDR-Geschichte und unserer Historie ohnehin mit auf den Weg geben? Was können wir, was kann jeder selbst aus der Geschichte lernen?

    Wir können, sollten, ja müssen unsere Geschichten erzählen.
    Und wir brauchen ein Publikum, das mit Respekt zuhört. Und wir haben die einfache Pflicht, dieses Publikum zu respektieren. Wir dürfen es nicht belehren.
    Dann kann jeder sehen, was er lernen beziehungsweise beachten möchte.

    Lieben Dank für das Interview

    ROMAN SCHULZ

    Geboren 1960
    verheiratet, zwei erwachsene Kinder
    1976 bis 79 Berufsausbildung mit Abitur GG Interdruck Buchbinder
    1981 bis 1985 Karl Marx Universität Leipzig Studium Diplomfachlehrer Geschichte und Deutsch
    1985 bis 1991 Lehrer an der 13. POS August Bebel im Leipziger Osten
    seit Herbst89 demokratische Umgestaltung der Schule
    seit 1991 verschiedene Tätigkeiten Schulaufsicht Sachsen
    seit etwa 2000 Schwerpunkt Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

    Im Buch „1989 – Lieder unserer Heimat“ schreibt Roman Schulz über: „NEVER-COMEBACK-AIRLINES Prag 1983“ www.1989-unsere-heimat.de/buch-lieder-unserer-heimat

    Und hier gehts zur Fortsetzung von „Prag 1983“: „Go Ohio 93“ www.1989-unsere-heimat.de/2930-2

  • ZEITZEUG*INNEN: INTERVIEW MIT ROLF SPRINK

    ZEITZEUG*INNEN: INTERVIEW MIT ROLF SPRINK

    INTERVIEW MIT ROLF SPRINK

    zum Buch „1989 – Lieder unserer Heimat”

    Bist du mit der Staatsmacht und/oder mit der StaSi in Konflikt geraten?

    Meine Stasiakte beginnt mit der Bespitzelung einer konspirativen Gruppe, an der ich teilnahm. Mit dem Zugriff hielt sie sich zurück, was umso merkwürdiger ist, weil die Bücher, die meinem Bruder zwei Jahre und drei Monate Knast in Cottbus einbrachten (er hat z. B. aus R. Kunzes „Wunderbaren Jahren“ in seiner Seminargruppe zitiert; das bedeutete „staatsfeindliche Hetze“), von mir stammen.

    Haben dich deine Eltern und Großeltern in dem, was du tust, unterstützt? Wie haben sie das Leben in der DDR wahrgenommen und gelebt?

    Meine lebenskluge Mutter lehnte das System ab. Wie man Vater Verhaftung und Knast meines Bruders verkraften und (in seinem kulturpolitischen „Apparat“) parieren konnte, habe ich mich immer gefragt. Ihn leider nicht.

    Rückblickend und im Vergleich mit dem Leben im Hier und Jetzt: Was verbindest du mit dem Satz: „Es war doch nicht alles schlecht.” Was waren für dein Gefühl positive Aspekte im DDR-System?

    Positiv erlebt und als selbstverständlich genommen wurde die soziale Absicherung – bei meinem ersten Besuch im Westen 1987 hat mich der Bettler mit dem Pappschild „Zum Essen“ quasi umgehauen. Aber: Die soziale Absicherung war es, woran sich das unwirtschaftliche System letztlich übernahm und kollabierte. Sie erwies sich als Fata Morgana …

    Hast du dich nach Meinungs-, Presse-, Reisefreiheit und eigener Freiheit/Identität gesehnt und wenn ja, wie und in welchem Rahmen?

    Und wie! Tag und Nacht!

    „Wir hatten doch nüscht.” Hast du selbst die Plan- und Mangelwirtschaft als Mangelwirtschaft für deinen persönlichen Bereich empfunden?

    Die materiellen Bedürfnisse unserer Familie konnten wir „recht und schlecht“ bedienen.

    Wie hast du Unterricht und Schule erlebt?

    Gern denke ich an meine erste Lehrerin zurück: Fräulein (!) Margarethe Geyer, bei der ich Lesen und Schreiben gelernt habe. Aber sie war eben „alte Schule“.

    Wie haben für dich Musik, Kunst und Kultur das Leben in der DDR beeinflusst?

    Hochkultur: sehr genossen, soweit erschwinglich. Für die „Untergrund-Literatur“ brauchte man Nischen und Freunde.

    Welche Bücher und Filme haben für dich einen bleibenden Eindruck und wohlige Gefühle hinterlassen?

    Thomas Mann, die „Russen“… Viel Musik … Filme: Geschichte, Abenteuer

    Wie ist heute dein Blick auf die DDR?

    Ich weine ihr keine Träne nach!

    Kann deines Erachtens Zivilcourage die Gesellschaft ändern?

    1989 wurde in der DDR dafür der Beweis erbracht. Auch für Gegenwart und Zukunft bleibt sie ein „Lebensmittel“.

    Wie empfandest du bei den Montagsdemonstrationen den Übergang von „Wir sind das Volk” zu „Wir sind ein Volk”?

    Es war buchstäblich der Lauf der Dinge, nicht aufzuhalten. Anfangs liebäugelte ich mit einem reformierten DDR-Sozialismus. Die Mehrheit löste jedoch radikale Veränderungen aus – „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehn wir zu ihr“ –, ohne „Risiken und Nebenwirkungen“ zu ahnen.

    Demokratieerfahrungen im vereinten Deutschland. Rechtspopulisten, besorgte und Wutbürger beanspruchen den Begriff „Wir sind das Volk“ jetzt für sich. Welche Assoziationen gehen für dich damit einher?

    Mir stülpt sich der Magen dabei um! Aber bei vielen scheint (wieder) der Eindruck zu bestehen, dass „die da oben nicht mehr können und die da unten nicht mehr wollen“

    Ab 1989 wurden Mauern eingerissen und Grenzen abgebaut. Jetzt werden diese wieder aufgebaut. Wie nimmst du das wahr? Wie fühlt sich das für dich an?

    Mauern und Grenzen, die der Abschottung und Ausgrenzung dienen, die auf Feindbildern beruhen, gehören auf den Schrotthaufen der Geschichte.

    Was können wir unseren nächsten Generationen als Erinnerungskultur, Auswertung und Aufarbeitung der DDR-Geschichte und unserer Historie ohnehin mit auf den Weg geben? Was können wir, was kann jeder selbst aus der Geschichte lernen?

    Seid wachsam gegenüber Unrecht, Lügen und Ausgrenzung, haltet couragiert dagegen!

    Vorträge und meine Erinnerungen zum Thema Friedliche Revolution schließe ich gern mit B. Brechts „Das Lied von der Moldau“ ab:

    Am Grunde der Moldau wandern die Steine,
    Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
    Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
    Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

    Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
    der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
    Und geh´n sie einher auch wie blutige Hähne,
    es wechseln die Zeiten, da hilft kein´ Gewalt.

    Lieben Dank für das Interview

    ROLF SPRINK

    Jahrgang 1950. Aufgewachsen in Görlitz, Dresden, Bautzen, Berlin. Studium der Ethnologie und Soziologie an der Universität Leipzig. Lektor im Brockhaus-, später Tourist-Verlag. 1990 Mitbegründer des Forums Verlags Leipzig, Verleger und Geschäftsführer. 1993-1996 Referent der Ökumenischen Stadtakademie Leipzig. 1996-2015 Leiter der Volkshochschule Leipzig. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Erwachsenenbildung und VHS-Arbeit. Ehrenamtliche Tätigkeit u.a. als Mitglied im Kuratorium der Stiftung Friedliche Revolution.

    Im Buch „1989 – Lieder unserer Heimat“ schreibt Rolf Sprink über: „OSTALGIE – NEIN DANKE! Wie standhalten?“ www.1989-unsere-heimat.de/buch-lieder-unserer-heimat

  • ZEITZEUG*INNEN: INTERVIEW MIT NANCY NILGEN

    ZEITZEUG*INNEN: INTERVIEW MIT NANCY NILGEN

    INTERVIEW MIT NANCY NILGEN

    zum Buch „1989 – Lieder unserer Heimat”


    Welches Lebensgefühl verbindest du mit deinem Aufwachsen, deiner Kindheit und Jugend?

    Ich erinnere mich gern an meine Kindheit. Diese schönen Erinnerungen haben aber erst einmal nichts damit zu tun, in welchem Land ich geboren bin. Sie sind der Tatsache geschuldet, dass ich eine sehr liebevolle Familie habe und äußerst behütet aufgewachsen bin.

    Was wäre deines Erachtens bei deinem Heranwachsen anders verlaufen, wenn du in einem anderen Gesellschaftssystem groß geworden wärst?

    Als Heranwachsende lag die Wiedervereinigung bereits gut 10 Jahre zurück. Mit meinem Schulabschluss Anfang der 2000er wurde ich mit den wirtschaftlichen Folgen dieser konfrontiert und ich empfand es zu der Zeit als notwendig, meine Heimat zu verlassen. Alles um mich herum wirkte so destruktiv und deprimierend. Da wollte ich raus. Ob das anders gewesen wäre, wenn ich in den alten Bundesländern groß geworden wäre, kann ich natürlich nicht mit Gewissheit sagen.

    Wie haben deine Eltern und Großeltern das Leben in der DDR wahrgenommen und gelebt?

    Meine Eltern und Großeltern haben das Leben in der DDR recht unterschiedlich wahrgenommen. Während mein Opa beispielsweise Parteimitglied war und überzeugt von den Ideen des Sozialismus, fiel es seiner Tochter, also meiner Mutter, wesentlicher schwerer sich anzupassen. Sie sagt heute, dass sie es trotzdem tat, weil sie Sorge hatte, dass ihre Kinder und Familie unter Restriktionen leiden könnten, falls sie es nicht getan hätte. Streitigkeiten und Diskussionen zwischen den beiden gab es deswegen aber wohl öfter.

    Was verbindest du mit dem Satz: „Es war doch nicht alles schlecht.”

    Mich persönlich nervt dieser Satz und ich kann ihn von meiner Warte aus nicht nachvollziehen. Ich verstehe, dass es einigen ehemaligen DDR-BürgerInnen darum geht, ihre Lebensleistung anzuerkennen. Das finde ich auch wichtig und man sollte in der öffentlichen Erinnerungskultur unbedingt daran arbeiten. Aber doch bitte nicht, indem man einen totalitären Staat romantisiert.

    Was waren für dein Gefühl positive Aspekte im DDR-System?

    Man erinnert sich heute gern an die damalige soziale Absicherung und die Gesetzgebung, die es Frauen erlaubt hat, selbstbestimmter zu sein. Stichwort: das damalige Abtreibungs- oder Scheidungsgesetz. Der Schein trügt aber, wie so oft. Dass die Frauen in der DDR der Doppelbelastung Arbeit und gleichzeitig Kindererziehung ausgesetzt waren, vergisst man heute dabei gern. Das soll aber nicht heißen, dass die Gesetzgebung in der Bundesrepublik diesbezüglich besser war oder ist. Aktuelle Debatten beweisen das.

    „Für den Frieden und Sozialismus immer bereit” Wie war es für dich uniformiert ein Halstuch oder ein FDJ-Hemd zu tragen und zum Appell anzutreten?

    Ich war Jungpionierin und zu dieser Zeit war ich wahnsinnig stolz darauf. Ich habe mich erst viele Jahre später damit auseinandergesetzt und reflektiert. Als kleines Kind konnte ich das freilich nicht. Heute finde ich es erschreckend, dass man so hingebungsvoll Teil dieser Struktur sein kann und ich frage mich nicht unkritisch, welchen Weg ich eingeschlagen hätte, hätte die DDR so noch länger existiert.

    Wie hast du Unterricht und Schule erlebt?

    Ich fand es damals toll. Ich bin gern zur Schule gegangen, weil ich mit meinen Freunden und Freundinnen zusammen sein konnte. Ich war zu jung, um den Unterricht, der natürlich ideologisch aufgeladen war, als solchen zu erkennen.

    Wie hast du die Masseninszenierungen, Sportwettkämpfe, Medaillen und Auszeichnungen empfunden?

    Fand ich als eher unsportliches Kind schrecklich. Ich gehörte immer zu den schlechtesten TeilnehmerInnen und ich konnte nicht verstehen, warum man so großen Wert darauf gelegt hat.

    Wie ist heute dein Blick auf die DDR?

    Sehr kritisch und anders sollte er meiner Meinung nach auch nicht sein.

    Kann deines Erachtens Zivilcourage die Gesellschaft ändern?

    Zivilcourage empfinde ich als die beste aller Formen, eine Gesellschaft zu ändern.

    Demokratieerfahrungen im vereinten Deutschland. Rechtspopulisten, besorgte und Wutbürger beanspruchen den Begriff „Wir sind das Volk“ jetzt für sich. Welche Assoziationen gehen für dich damit einher?

    Es macht mich wütend und traurig. Als das vor einigen Jahren losging, war mein Vater, der die Montagsdemos 89 in Leipzig miterlebt hat, so empört darüber, dass er jedes Mal vor Wut Tränen in den Augen hatte, wenn wir darüber sprachen.

    Ab 1989 wurden Mauern eingerissen und Grenzen abgebaut. Jetzt werden diese wieder aufgebaut. Wie nimmst du das wahr? Wie fühlt sich das für dich an?

    Ich finde es natürlich schrecklich. Ich hatte das Glück in meinem bisherigen Leben, den Abbau von Grenzen mitzuerleben. Das sich das jetzt wieder ändert, kann und möchte ich nicht akzeptieren.

    Was können wir unseren nächsten Generationen als Erinnerungskultur, Auswertung und Aufarbeitung der DDR-Geschichte und unserer Historie ohnehin mit auf den Weg geben? Was können wir, was kann jeder selbst aus der Geschichte lernen?

    Sowohl als Historikerin als auch als Zeitzeugin habe ich ein tiefes Bedürfnis, die Erinnerungskultur aktiv mitzugestalten. Vieles muss sich da einfach noch ändern, vor allem was die öffentliche Wahrnehmung angeht. Es ist so wichtig, dass wir uns mit unserer Geschichte auseinandersetzten und damit meine ich nicht nur ehemalige DDR-BürgerInnen. Auch mit den Jahren nach 89 und 90 muss man sich kritisch befassen, um die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen zu verstehen.

    NANCY NILGEN

    Nancy Nilgen wurde 1982 in Naumburg/Saale geboren. Sie studierte in Leipzig Kulturwissenschaften und Neuere Geschichte und verfasst aktuell ihre Doktorarbeit zur Geschichte der Koch- und Ernährungsgewohnheiten in der DDR.

    Im Buch „1989 – Lieder unserer Heimat“ schreibt Nancy Nilgen über: „DER GENÜGSAME UMGANG MIT LEBENSMITTELN DDR-Kochbücher als ideologische Trojaner“ www.1989-unsere-heimat.de/buch-lieder-unserer-heimat

  • ZEITZEUG*INNEN: INTERVIEW MIT STEPHAN MICHME

    ZEITZEUG*INNEN: INTERVIEW MIT STEPHAN MICHME

    INTERVIEW MIT STEPHAN MICHME

    zum Buch „1989 – Lieder unserer Heimat”

    Welches Lebensgefühl verbindest du mit deinem Aufwachsen, deiner Kindheit und Jugend in der DDR?

    Ich verbinde eher ein unbeschwertes kindliches Wohlgefühl mit dem Aufwachsen in der DDR. An Humor, Liebe und Wärme erinnere ich mich. Das hat sicher mit der Art und Weise zu tun, mit der meine Eltern uns durch diese Zeit „gecoacht“ haben. Bestimmte Ratschläge oder Erlebnisse bekamen erst im Nachhinein eine seltsame Bedeutung. Dazu fragt ihr bestimmt gleich noch mehr …

    Was wäre deines Erachtens bei deinem Heranwachsen anders verlaufen, wenn du nicht in der DDR groß geworden wärst?

    Der große Philosoph Lothar Matthäus sagte ja treffend: „Wäre, wäre Fahrradkette…“ Eine schöne Frage zum Rumspinnen. Wenn ihr auf ein Heranwachsen in der BRD abzielt, wäre ich irgendwas zwischen Millionen schwerem Fußballprofi und drogenabhängigem selbstzerstörerischem Schauspieler mit Ambitionen, in die Politik zu gehen geworden. Vielleicht auch nur ganz normaler Sportlehrer in Saab 9000 Cabrio und grünem Parteibuch … also wie sagte der große Philosoph L.M … 🙂

    Wie hast du das Leben in der DDR empfunden und verbracht?

    Als ich das Leben gelebt hab, war ich glücklich und sorgenfrei … aber ich war jung und hatte ein Umfeld, welches mich beschützt und versorgt hat. Die Familie war über allem und hat alles irgendwie geregelt. Von Bückwarenbesorgungen bis zur Glättung auch von kleinen politischen Verfehlungen (Verfehlungen aus der damaligen Sicht).

    An welche positiven Erlebnisse und an welche negativen Erfahrungen erinnerst du dich?

    Je ein Beispiel.
    Positiv: Mein Vater legte sich mit dem gesamten Bildungsapparat bis zur mittleren Ebene an, damit ich zum Abitur zugelassen wurde. Als ich den Schriftverkehr nach seinem Tod fand und las, war ich erschüttert, stolz und sehr berührt.
    Negativ: Mein Schuldirektor wollte mir das Abitur versauen, weil ihm meine Nase und/oder Frisur nicht gefiel. Ich sah auf dem Kopf aus wie fast jeder zweite zwischen 1985 und 1990 … irgendwas zwischen Martin Gore, Billy Idol und Robert Smith … albern, oder?

    Bist du mit der Staatsmacht und/oder mit der StaSi in Konflikt geraten?

    Wir hatten zwischen 1980 und 1985 regelmäßig „entfernte Verwandte“ zu Gast. Immer wenn mein Bruder und ich allein zu Haus waren, immer kurz vor und nach Reisen meiner Großeltern in den Westen. Es war offensichtlich, dass das IM Unsinn war. Meine Eltern haben uns exzellent vorbereitet. „Seid nett, antwortet auf jede Frage mit einer Gegenfrage zu Euren Hausaufgaben oder mit Erzählungen von euren Aktivitäten beim Sport oder Ähnliches …“ Sie haben nie gesagt, dass da auch was wirklich Schlimmes drohen könnte, nie die Stasi erklärt oder was ein IM ist. Im Nachhinein gleichermaßen clever, aber auch voller Vertrauen in Ihre Jungs. Klasse Eltern …<3 Vorbilder!
    Um 1988/89 herum wurde ich auch mal wegen meiner Haare sowie meiner Gesellschaft und der komischen Musik wie B-52s, Sandow etc. in so einen seltsamen Lada gesperrt und befragt. Aber das wurden wir im Freundeskreis zu der Zeit fast alle mal.

    Hast du Dinge getan oder nicht getan im Bewusstsein von der StaSi beobachtet und überwacht zu werden?

    Nie bewusst … siehe oben …

    Konntest du dich frei entfalten oder warst du Einschränkungen ausgesetzt und wenn ja, welchen?

    Ich konnte mich frei entfalten. Zumindest hatte ich das Gefühl. Auf jeden Fall durfte ich nie etwas nicht machen … die Abiturgeschichte, war die erste und schlimmste, die mir für einige Zeit den Schlaf raubte. Heut bin ich sicher, dass es ab dann ohne Wende für mich öfter mal Probleme gegeben hätte.

    Haben dich deine Eltern und Großeltern in dem, was du tust, unterstützt?

    Meine Eltern haben mich vor und nach der Wende in allem 100% unterstützt! Die perfekte Mischung aus Freiraum und bestimmten Ratschlag haben sie für mich gefunden.

    Wie haben sie das Leben in der DDR wahrgenommen und gelebt?

    Sie waren wohl irgendwie zufrieden unzufrieden. Wie wohl die meisten. Mama bei der Post, Papa als Geophysiker … Zweimal Urlaub im Jahr. Im Sommer Ostsee oder ČSSR und im Winter Vogtland … zwei Söhne, einen Trabant, einige Westverwandtschaft, ne coole Hausgemeinschaft von Parteien, alle mit Kindern, man half sich und lebte mit Mängeln und Einschränkungen und machte es sich wohl irgendwie trotzdem gemütlich … irgendwie fast klassisch

    Welche Wünsche und Träume hattest du, die du entweder umsetzen oder eben nicht aufgrund des Staatssystems verwirklichen konntest?

    Ich war im perfekten Alter (18) zur Wende und konnte alles verwirklichen, worauf ich Bock hatte.

    Rückblickend und im Vergleich mit dem Leben im Hier und Jetzt: Was verbindest du mit dem Satz: „Es war doch nicht alles schlecht.” Was waren für dein Gefühl positive Aspekte im DDR-System?

    Ich kann Menschen verstehen, die diesen Satz sagen. Und ich kann genauso die Menschen verstehen, die diesen Satz nicht nachvollziehen können.

    Hast du dich nach Meinungs-, Presse-, Reisefreiheit und eigener Freiheit/Identität gesehnt und wenn ja, wie und in welchem Rahmen?

    Ich habe mich nie bewusst nach diesen Dingen explizit gesehnt. Hab mich aber auch nie bewusst eingeschränkt.

    „Wir hatten doch nüscht.” Hast du selbst die Plan- und Mangelwirtschaft als Mangelwirtschaft für deinen persönlichen Bereich empfunden?

    Erlebt hab ich es natürlich, ohne es als etwas Einschränkendes zu erleben. Dass wir Freitags ein „Spezialpaket“ beim Fleischer bekamen, weil Mama für die Verkäuferin Westkaffee hatte, habe ich erst relativ spät bemerkt und hab es dann eben als normal bewertet, weil es ja jeder irgendwie so machte. Wer kein Westzeugs hatte, hat eben schwarz gearbeitet oder in seinem Betrieb Dinge mitgehen lassen, um sich am „Tausche Heizung gegen Golf“-Spiel zu beteiligen.
    Ich habe mich einmal fürchterlich geschämt, weil mein West-Onkel zwei ganze Bratwürste oder Salamis beim Fleischer kaufen wollte und sich mit der Verkäuferin stritt, weil diese ihm erklärte, dass sie nur ne halbe Wurst für jeden abgeben dürfe. Er hat das nicht kapiert und pöbelte rum, meine Eltern waren nicht dabei und überhaupt … dass er wohl nur mit nem Zehner West hätte winken müssen, um die halbe Theke zu bekommen, wusste er nicht, ich auch nicht, denn ich war 5 oder so.
    Alles heute amüsant zu erzählen, die traurige und unmenschliche Komponente hinter diesem Spiel ist mir jetzt natürlich bewusst.

    „Für den Frieden und Sozialismus immer bereit” Wie war es für dich uniformiert ein Halstuch oder ein FDJ-Hemd zu tragen und zum Appell anzutreten?

    Hat mich nie gestört. Ich kann nicht mal erklären, warum. Ich bin in FDJ-Hemd, Iro und Boots unterwegs gewesen und fand das nicht schlimm. Wenn ich da heut drüber nachdenke … Oh Mann, was für ein groteskes Bild. Gesellschaftlich, emotional und politisch.

    Wie hast du Unterricht und Schule erlebt?

    Ich lerne und lernte immer gern. Ich mochte Schule.

    Wie hast du die Masseninszenierungen, Sportwettkämpfe, Medaillen und Auszeichnungen empfunden?

    Ich hab es nie als solches empfunden. Was aber wohl auch mit der eher kleinen rumpeligen POS zu tun hatte, an der ich war. Das wirkte alles da so gar nicht für Massen inszeniert :-). Zur Penne kam ich schon während der ersten Wendeanzeichen und Diskussionen … da ging es sehr kritisch ab … das war ne wilde Zeit.

    Wie waren für dich deine Ferien im FDGB-Heim?

    Wir waren nie in einem klassischen großen FDGB-Heim. Im Sommer auf dem Zeltplatz oder in der ČSSR und im Winter im Vogtland fast privat bei Leuten. Mit kleinem Frühstücksraum, in dem Westradio lief. Meine Eltern haben das immer lieber individuell geplant und durchgezogen.

    Warst du Teil einer Jugend-, Opostions- und Widerstands-Bewegung?

    Ich hing mit Punks ab und spielte gleichzeitig Fußball … ich weiß nicht 🙂

    Wie haben für dich Musik, Kunst und Kultur das Leben in der DDR beeinflusst?

    Extrem … besonders nach der Wende. Klingt bescheuert, ist aber so …

    Welche Bücher und Filme haben für dich einen bleibenden Eindruck und wohlige Gefühle hinterlassen?

    „Einer trage des anderen Last“, „Die Legende von Paul und Paula“, „Spur der Steine“, „Grüne Hochzeit“ … völlig unvollständig …

    Wie ist heute dein Blick auf die DDR?

    Differenziert und wahrscheinlich auch mit jedem Jahr etwas verschwommener …

    Kann deines Erachtens Zivilcourage die Gesellschaft ändern?

    Definitiv JA!

    Wie empfandest du bei den Montagsdemonstrationen den Übergang von „Wir sind das Volk” zu „Wir sind ein Volk”?

    Ich hab da das erste Mal eine Idee davon bekommen, wie nah Schön und Schrecklich sich sein können. Oder besser wie schnell aus Miteinander ein „Jeder für sich“ werden kann und unter Umständen in einem „Alle gegen alle“, „Jeder gegen jeden endet “ …

    Demokratieerfahrungen im vereinten Deutschland. Rechtspopulisten, besorgte und Wutbürger beanspruchen den Begriff „Wir sind das Volk“ jetzt für sich. Welche Assoziationen gehen für dich damit einher?

    Es macht mich sprachlos und mitunter sogar wütend. Aber meistens versuch ich es einfach anders und in meiner Version vorzuleben. Unermüdlich emphatisch optimistisch … ich glaube fest daran, dass es nur so geht.

    Ab 1989 wurden Mauern eingerissen und Grenzen abgebaut. Jetzt werden diese wieder aufgebaut. Wie nimmst du das wahr? Wie fühlt sich das für dich an?

    Beängstigend!

    Was können wir unseren nächsten Generationen als Erinnerungskultur, Auswertung und Aufarbeitung der DDR-Geschichte und unserer Historie ohnehin mit auf den Weg geben? Was können wir, was kann jeder selbst aus der Geschichte lernen?

    Empathie, Mut, Menschlichkeit, Optimismus und Liebe sind am Ende stärker als Hass!

    Allerdings „Die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder“ (Vergniaud)

    STEPHAN MICHME

    1972 in Magdeburg geboren, Kindergarten, POS „Goethe Schiller“, EOS „Geschwister Scholl“ („daraus konnte nur ein naiver die Welt verbessern wollender Straßenköterpoet werden“) , verhinderter Sport- und Deutschlehrer, gestrandet auf Bühnen, im Fernsehen und im Radio … kleine Popstarkarriere mit SCYCS (einmal um die Welt mit zwei halben Hits), noch kleinere Erwachsenenmusikkarriere als Michme dauert bis heute an (auf DEN EINEN ganzen Hit wartet man noch) … im TV und vor allem im Radio wird seit 1994 bis heut alles moderiert, was fetzt, im Moment vor allem sehr früh morgens bei MDR Sachsen-Anhalt, Spitzname „Radiot“, Lebenstraum: „was wirklich Kluges schreiben, das trotzdem nach Popsong klingt“

    Im Buch „1989 – Lieder unserer Heimat“ ist Stephan Michme im Interview über: „AUS MITEINANDER EIN „JEDER FÜR SICH““ www.1989-unsere-heimat.de/buch-lieder-unserer-heimat

  • ZEITZEUG*INNEN: INTERVIEW MIT DIRK ROTZSCH

    ZEITZEUG*INNEN: INTERVIEW MIT DIRK ROTZSCH

    INTERVIEW MIT DIRK ROTZSCH

    zum Buch „1989 – Lieder unserer Heimat”

    Welches Lebensgefühl verbindest du mit deinem Aufwachsen, deiner Kindheit und Jugend in der DDR?

    Mit relativer Sicherheit – eigentlich absurd bei der allgegenwärtigen atomaren Bedrohung und der Militarisierung in der Gesellschaft. Aber als Kind braucht man wohl dieses Urvertrauen, das da einem suggeriert wurde. Später, als Jugendlicher, haben Verbote und deren Umgehung ja ziemlichen Charme, und wenn es nüscht gab, Verbote gabs genug. Heute bin ich manchmal erschrocken über meine Naivität: gestern wie heute gilt: traut keinen alten Männern!

    Was wäre deines Erachtens bei deinem Heranwachsen anders verlaufen, wenn du nicht in der DDR groß geworden wärst?

    Schwierig, meine familiäre Situation hat mich wohl mehr geprägt als die gesellschaftliche. Aber ich glaube schon, dass mein Leben anders verlaufen wäre. Selbst nach der Wende habe ich an Weggabelungen gestanden und die Entscheidung für den anderen Weg hätte mein Leben verändert, aber das Vergleichen ist der Beginn des Unglücklichseins.

    Wie hast du das Leben in der DDR empfunden und verbracht?

    Da übertriebene Gier nichts gebracht hätte, war das Verhältnis eher herzlich im Kleinen. Nur die gesellschaftliche Schizophrenie war sehr belastend für die Leute. Nicht wirklich sagen können, was wirklich ist. Als Schüler war es noch recht übersichtlich, aber ab der Lehre spürte man sehr schnell diesen Zwiespalt. Es gab mal ein Lied, das hieß: „Ich möchte in das Land, das in der Zeitung steht“ – das trifft es ganz gut. Aber heute ist es eigentlich schon wieder so.

    An welche positiven Erlebnisse und an welche negativen Erfahrungen erinnerst du dich?

    Privat gab es auf jeden Fall ein prägendes negatives Ereignis. Ansonsten sind es besonders Kindheitserinnerungen von endlosen Ferien, mit Urlaub in der Stadt bei meinen vielen Omas in Leipzig, Spitzbubenstreiche mit meinen Freunden in der Schule etc. Obwohl ich eigentlich ein bekennender „Drinni“ war und bin, war ich doch viel draußen.

    Bist du mit der Staatsmacht und/oder mit der Stasi in Konflikt geraten?

    Es war eher Folklore. Ende der 80er die (in meinem Text fürs Buch beschriebene) tägliche Polizeikontrolle. Ansonsten durfte ich 1987 in die UdSSR fahren und bekam vorher Besuch eines freundlichen Genossen, der mich diverse Dokumente ausfüllen ließ, die Verbote beinhalteten, keine Presseerzeugnisse mitzubringen. Ansonsten gab es die bestimmt, aber ich weiß es natürlich nicht und es hat mich im Nachgang nicht interessiert, ich war ja kein Revoluzzer.

    Hast du Dinge getan oder nicht getan im Bewusstsein von der Stasi beobachtet und überwacht zu werden?

    Nein, gab es nicht, nicht bewusst. Aber man hatte ja immer auch eine Schere im Kopf. Wir wussten jedoch alle, das irgendwo einer mitschreibt, teilweise wussten wir sogar wer. Ansonsten war ich natürlich auch sehr naiv.

    Konntest du dich frei entfalten oder warst du Einschränkungen ausgesetzt und wenn ja, welchen?

    Am meisten stand ich mir selber im Weg, was die Einschränkungen anging, aber das hat mich auch vor der Systemnähe geschützt.

    Haben dich deine Eltern und Großeltern in dem, was du tust, unterstützt? Wie haben sie das Leben in der DDR wahrgenommen und gelebt?

    Mein Vater hat, soweit es ihm möglich war, mich gehindert oder bewahrt, zu viel Ärger zu bekommen. Ich glaube, er war nicht wirklich glücklich mit einigen Dingen, die ich getan habe und es gab schon Differenzen. Aber ich war auch nicht wirklich so mutig, dass ich wirklich Stress bekommen hätte.

    Welche Wünsche und Träume hattest du, die du entweder umsetzen oder eben nicht aufgrund des Staatssystems verwirklichen konntest?

    Bei mir war es ja eher die auf Jugend beruhende Opposition und die konnte ich ausleben, aber ich wurde nie von anderen gehindert, da habe ich mich gehindert, weil ich nicht ehrgeizig oder nicht opportunistisch genug war.

    Rückblickend und im Vergleich mit dem Leben im Hier und Jetzt: Was verbindest du mit dem Satz: „Es war doch nicht alles schlecht.” Was waren für dein Gefühl positive Aspekte im DDR-System?

    Jetzt ist ja auch nicht alles schlecht, das Leben findet immer einen Weg, aber mit dem Satz kann ich nichts anfangen. Es kann ja immer alles besser sein und wenn es nicht gereicht hat, war es eben nicht gut genug.

    Hast du dich nach Meinungs-, Presse-, Reisefreiheit und eigener Freiheit/Identität gesehnt und wenn ja, wie und in welchem Rahmen?

    Ich fand es sehr befreiend, dass man während der Wende fast alles sagen konnte, und es ist trotzdem nicht zu einer Verrohung der Sitten gekommen. Das ist heute anders, heute riecht vieles wieder nach Kristallnacht.

    „Wir hatten doch nüscht.” Hast du selbst die Plan- und Mangelwirtschaft als Mangelwirtschaft für deinen persönlichen Bereich empfunden?

    Natürlich, in fast allen Bereichen, das gehört doch zur DNA der DDR. Damals störte mich, dass ich nicht alles lesen und hören konnte, was mich interessiert hatte. Aber man hat halt genauer hingehört und intensiver gelesen, bei dem was man bekam. Man hat alles aufgesogen wie ein Schwamm. Heute bewegen wir uns wie wasserabweisende Kugeln in einem Meer an Informationen.

    „Für den Frieden und Sozialismus immer bereit!” Wie war es für dich uniformiert ein Halstuch oder ein FDJ-Hemd zu tragen und zum Appell anzutreten?

    Ich war immer ein eher liederlicher Typ und habe immer etwas vergessen: Accessoires und auch Kommandos. Kein Akt des Widerstands, nur Schlampigkeit.

    Wie hast du Unterricht und Schule erlebt?

    Ich habe mich heute zufälligerweise mit meiner besseren Hälfte über das Thema unterhalten und konnte feststellen, dass ich an einer sehr liberalen Schule, gemessen an den Verhältnissen, war. In Halle war es krasser. Mein Literaturlehrer ist mir da in Erinnerung geblieben, der auch sehr heikle Themen, wie Vergewaltigungen von Sowjetsoldaten nach dem 2. Weltkrieg, angesprochen hat. Selbst unser Direktor, ein überzeugter Kommunist, ringt mir heute Respekt ab, auch wenn er uns damals mit seiner Sowjetunion-Liebe auf den Nerv ging.

    Wie hast du die Masseninszenierungen, Sportwettkämpfe, Medaillen und Auszeichnungen empfunden?

    Leider und zum Leidwesen meines Vaters war ich keine sonderliche Sportskanone, aber über meine Medaillen bei der Fußballspartakiade war ich stolz. Ansonsten haben die alten Herren wohl die Wirkung solcher Inszenierungen völlig überschätzt, wie heute die Kirche ihre Gottesdienste.

    Wie waren für dich deine Ferien im FDGB-Heim?

    Wenn wir das Glück hatten, einen Platz zu bekommen, hat man es mitgenommen, aber ich glaube, ich war früher mehr organisiert im Urlaub als heute.
    Ferienlager mit der Schule oder mit dem Fußball fand ich spannend und war ok. Ich glaube, ich blende jetzt Fahnenappell etc. aus, weil ich mich da nicht dran erinnern kann.

    Warst du Teil einer Jugend-, Oppositions- und Widerstands-Bewegung?

    Ich war „Grufti“, ich mag den Begriff jedoch nicht. Aber nein, ich war kein Widerständler in dem Sinne, wirklich was riskiert zu haben, das Lob gebührt anderen. Es reicht nicht über Äußerlichkeiten kund zu tun: hier stimmt was nicht, genauso wie es heute nicht reicht das über Internetposts und Klicks bei Petitionen zu tun.

    Wie haben für dich Musik, Kunst und Kultur das Leben in der DDR beeinflusst?

    Auf jeden Fall mehr als heute, es lohnte sich genauer hinzuhören. In geschlossenen Gesellschaften liest man mehr zwischen den Zeilen, und ja, es war Lebenselixier. Wir haben viel lebhafter über Texte und Musik diskutiert.

    Welche Bücher und Filme haben für dich einen bleibenden Eindruck und wohlige Gefühle hinterlassen?

    Musikalisch auf jeden Fall The Cure – die hatten bestimmt keine Ahnung über den real existierenden Sozialismus, aber lieferten einen perfekten Soundtrack zu dieser Zeit. Mit Filmen war es schwieriger, man bekam ja nur das zu sehen, was abgesegnet war. Bei Büchern suchte man immer die Ungereimtheiten, wie zum Beispiel beim „Laden“ von Strittmatter. Und meinen Literaturhelden Albert Camus bekam man gar nicht, außer eine kommentierte Ausgabe von „Die Pest“. „1984“ von Orwell habe ich nur als Film und über den Umweg des Soundtracks zum Film kennengelernt, genauso wie die „Farm der Tiere“, das ich erst nach der Wende lesen konnte.

    Kann deines Erachtens Zivilcourage die Gesellschaft ändern?

    Natürlich, man darf sich nur nicht schämen, wenn es erst 20 Leute sind, irgendwann kann es eine Massenbewegung werden, im Guten wie im Schlechten. Und Zivilcourage kann es schon sein, auf den eigenen Vorteil zu verzichten: in der Bahn Platz machen, die Tür aufhalten und irgendwann die Welt zu einem besseren Ort machen. Der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.

    Wie empfandest du bei den Montagsdemonstrationen den Übergang von „Wir sind das Volk” zu „Wir sind ein Volk”?

    Ambivalent, aber ich war und bin ein linksromantischer Spinner.

    Demokratieerfahrungen im vereinten Deutschland. Rechtspopulisten, besorgte und Wutbürger beanspruchen den Begriff „Wir sind das Volk“ jetzt für sich. Welche Assoziationen gehen für dich damit einher?

    Absurd, die haben nur Abstiegsängste. Sorry, ich weiß, das man da differenzierter sein sollte, aber für mich hat das leider einen völlig anderen Zungenschlag, weil es ausgrenzt und am Ende könnte so etwas stehen wie: „Kauft nicht beim Juden!“

    Ab 1989 wurden Mauern eingerissen und Grenzen abgebaut. Jetzt werden diese wieder aufgebaut. Wie nimmst du das wahr? Wie fühlt sich das für dich an?

    Wenn man mehr hat, als man selber braucht, sollte man einen längeren Tisch bauen und keine Mauern. Natürlich ist das sehr viel komplexer, aber wenn man Wohlstand auf globalisierter Ausbeutung gründet, hat man verdammt nochmal eine Mitverantwortung oder konsequenterweise Mitschuld. Wer argentinisches Rindfleisch frisst, hat Schuld an der Klimaerwärmung – als ein Beispiel. Wir leben in einem ziemlich finsteren Zeitalter, wo jeder nachweislich weiß, woran es liegt, aber alle machen aus purem Egoismus mit und hinterher bauen wir eine Mauer, um die Folgen unseres Handelns abzuwehren – pervers und völlig sinnlos. Wenn wir da nicht umdenken, wird uns das ausnahmslos einholen, da wird keine Mauer helfen, Punkt!

    Was können wir unseren nächsten Generationen als Erinnerungskultur, Auswertung und Aufarbeitung der DDR-Geschichte und unserer Historie ohnehin mit auf den Weg geben? Was können wir, was kann jeder selbst aus der Geschichte lernen?

    Bei dem demenziell anmutenden Kurzzeitgedächtnis, das unsere Gesellschaft erfasst hat, wäre ein Langzeitgedächtnis utopisch. Wichtig wäre es, den Opportunismus zu überwinden, der hat sich leider gehalten und ist wieder der Motor der Gesellschaft. Ich glaube und hoffe aber, dass die junge Generation sich ihre Zukunft auf diesem Planeten nicht von uns alten Säcken kampflos verbauen lässt. Und die Älteren täten gut daran, dem Fortschritt, vor allem dem moralischen, nicht als Bremse zu dienen.

    Lieben Dank für das Interview

    DIRK ROTZSCH

    Dirk Rotzsch, Neu-Hallenser mit sächsischem Migrationshintergrund (Geithain, Bad Lausick, Leipzig). Küchenleiter, Autor („Michel – Eine Generation frisst ihre Kinder“), Co-Autor („Liebe mit Laufmaschen“), diverse Anthologien. Ehemals Keyboarder bei RationV, Lament und Raum41.

    Im Buch „1989 – Lieder unserer Heimat“ schreibt Dirk Rotzsch über: „GRUFTIES AUF DEM LAND – DIE WOLLEN NUR TRAURIG SEIN … und den Aufstand maximal andenken“ www.1989-unsere-heimat.de/buch-lieder-unserer-heimat

  • ZEITZEUG*INNEN: INTERVIEW MIT HENDRIK DOMRÖS

    ZEITZEUG*INNEN: INTERVIEW MIT HENDRIK DOMRÖS

    INTERVIEW MIT HENDRIK DOMRÖS

    zum Buch „1989 – Lieder unserer Heimat”

    Welches Lebensgefühl verbindest du mit deinem Aufwachsen, deiner Kindheit und Jugend in der DDR?

    Manchmal Enge, oft Behütetsein, häufig schlechte Musik, schlechter Klamottengeschmack in Ermangelung stylischer Alternativen, das Gemecker der Anderen und Colt Seavers.

    Was wäre deines Erachtens bei deinem Heranwachsen anders verlaufen, wenn du nicht in der DDR groß geworden wärst?

    Ich hätte eher einen Kassettenrekorder gehabt und damit die Möglichkeit, viel früher mehr echte Musik zu erfahren. Ich hielt die Koketterie „Im Osten haben alle Musiker studiert und deshalb ist auch die Musik besser“ immer für hochgradigen Unsinn.
    Mein erstes Konzert wäre nicht Pharao, sondern Iron Maiden gewesen. Und die erste Zigarette keine Karo, sondern vielleicht ne Camel ohne Filter.
    Meine Eltern hätten als Kommunisten vielleicht Berufsverbot gehabt oder gegen den NATO-Doppelbeschluss demonstriert. Schule hätte ich wohl so oder so Kacke gefunden und das erste Mal geknutscht wohl auch erst mit 13 oder 14.

    Wie hast du das Leben in der DDR empfunden und verbracht?

    Ich war zur Wende ja erst 13. Was aber wirklich in Erinnerung blieb, war das ständige Gemecker aller möglichen Leute. Scheiß Honecker – es gibt keine Bananen, Braustolz nur in grünen Flaschen und keine Hawaii-Reise (Wer bitte fährt denn heute nach Hawaii in den Urlaub?).
    Dafür wurde ständig und überall gesoffen, es gab Bockwurstmarken am 01. Mai und Berufe wie „Betriebsmaurer“ oder „Facharbeiter für Gütekontrolle“ für karrierebewusste Werktätige.
    Acht Wochen Sommerferien waren deutlich zu viel, denn gerade gegen Ende August hin wurde es immer ganz schön langweilig. Dass man sonnabends in die Schule musste, empfand ich erst im Nachgang als Belastung, schließlich hat man ja auch nicht in Frage gestellt, wenn man mittwochs Schule hatte.
    Komisch fand ich jedoch, dass es zwar bei uns einen „Platz der Solidarität“ oder ein „Stadion der Völkerfreundschaft“, aber trotzdem ständig Schlägereien mit vietnamesischen, kubanischen oder mosambikanischen Vertragsarbeitern gab. Natürlich nur, weil „die“ provoziert und die Taschen voller Westgeld hatten.

    An welche positiven Erlebnisse und an welche negativen Erfahrungen erinnerst du dich?

    Toll war zu Weihnachten, wenn entweder „Winnetou“ oder „Die Olsenbande“ im Fernsehen kam. Auch Westfernsehen hat gefetzt. „Colt Seavers“, „Trio mit vier Fäusten“ oder „Hard‘n‘Heavy“, Mittwoch nachmittags mit Annette Hopfenmüller auf Tele 5, einem Sender, den wir seit 1988 wahrscheinlich als einzige in der gesamten Ostzone empfangen konnten, dank einer ausrangierten NVA-Satellitenschüssel auf dem Dach der Garage des Genossen Vorsitzenden der Antennengemeinschaft der AWG.
    Negativ in Erinnerung geblieben ist mir, dass die Typen mit Westverwandschaft oft Arschlöcher waren und Mondpreise für drittklassigen Mist (z. B. das Heavy Metal-Magazin aus der Bravo) aufgerufen haben.

    Rückblickend und im Vergleich mit dem Leben im Hier und Jetzt: Was verbindest du mit dem Satz: „Es war doch nicht alles schlecht.” Was waren für dein Gefühl positive Aspekte im DDR-System?

    Das ist ein Scheiß-Satz. Grundsätzlich kann man den nämlich über jedes System sagen. Nur bringt das nichts und verdeckt den ganzen anderen Mist.
    Solange es nicht allen gut geht, ist das System nicht gut. Ganz einfach. Man kann zu den Glücklichen zählen, die nichts oder nicht viel auszustehen haben, anderen hingegen gehts dreckig. Solange das so ist, müssen Menschen sich Gedanken machen, wie man genau diesen Zustand überwinden kann. Es rettet uns nunmal kein höheres Wesen.

    „Wir hatten doch nüscht.” Hast du selbst die Plan- und Mangelwirtschaft als Mangelwirtschaft für deinen persönlichen Bereich empfunden?

    Ja klar! Kein Kassettenrekorder, keine Westplatten, kein Metal Hammer oder Rock Hard. Das System war nicht lebensfähig.

    „Für den Frieden und Sozialismus immer bereit!” Wie war es für dich uniformiert ein Halstuch oder ein FDJ-Hemd zu tragen und zum Appell anzutreten?

    Ich hatte nichts gegen Halstücher, nur gegen diese „Pionierblusen“. Ich hasse Hemden. Später gab es zum Glück „Pioniernickis“, die waren okay.
    Die Pioniergebote waren lächerlich und allen, die ich kannte, vollkommen egal. Eine Belobigung vorm Appell zu kriegen, hatte aber schon was. Fürs Altpapiersammeln oder gute Leistungen beim „Festival der jungen Talente“ gabs die. Applaus klang auch zu DDR-Zeiten nicht anders als heute.
    Meinen ersten größeren Auftritt als „Solokünstler“ hatte ich im Mai 89 vor der versammelten SED-Kreisleitung. Da hab ich zwei Songs gebracht, nämlich „Glocke 2000“ von Karat und ne Heavy-Ballade „Wenn der Frieden stirbt“ von Prinzip. Da haben die ganzen Funktionäre angefangen zu heulen, weil sie so ergriffen waren und hinterher gabs Standing Ovations. Das war schon geil. Dafür hab ich vorm Appell auch nochmal ne Belobigung eingefahren und fand cool, dass ich in der Belobigungsbegründung als Rockmusiker bezeichnet wurde.

    Wie hast du Unterricht und Schule erlebt?

    Ich habe Schule gehasst. Mathe, still sitzen mit verschränkten Armen, Biologie, überhaupt Naturwissenschaften. Musik und Geschichte waren okay. Stabi war aber auch nur lächerlich. „Die Welt lebt im weltweiten Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus.“ Is klar …

    Wie hast du die Masseninszenierungen, Sportwettkämpfe, Medaillen und Auszeichnungen empfunden?

    Masseninszenierungen wurden ja der Arbeiterbewegung durch die Nazis weggenommen. Deshalb hat man da zu Recht Berührungsängste.
    Ich denke aber, dass gerade Sportler, ähnlich wie ich mit meiner Belobigung vorm Appell, schon ziemlich stolz waren, wenn ihnen von 50.000 Menschen zugejubelt wurde.
    Die Aufmärsche am 1. Mai oder zum 7. Oktober haben inhaltlich niemanden interessiert, dafür gabs aber immer was kostenlos. Limo und Bockwurst zum Beispiel.
    Die Medaillen bei der Spartakiade empfand ich als Bestätigung. Denn auch wenn ich wusste, dass ich später mal Musiker werde, konnte ich so auch jederzeit einen Sportberuf ergreifen, in meinem Fall Fußballer oder Kegler. Oder eben Sportreporter, so wie Dirk Thiele oder Bodo Boeck vom Fußballpanorama.

    Wie waren für dich deine Ferien im FDGB-Heim?

    Ganz cool eigentlich, da die Dinger immer ganz gut ausgestattet waren, z. B. mit nem Schwimmbad oder Tischtennisraum. Man lernte jede Menge Leute in seinem Alter kennen und im Gemeinschaftsraum ging immer die Post ab, wenn z. B. Fußball übertragen wurde.

    Wie ist heute dein Blick auf die DDR?

    Man sollte mit Menschen keine Experimente machen, schon gar nicht mit der Begründung, es sei für eine gute Sache. Und man darf seelisch Geschädigten (Quasi die gesamte Führungsriege der SED saß ja im KZ oder Nazi-Zuchthaus.) keine Macht geben. Das musste schiefgehen bei einem Volk von Nazikollaborateuren.

    Kann deines Erachtens Zivilcourage die Gesellschaft ändern?

    Nein. Aber sie macht eine Gesellschaft auch nicht schlechter.

    Wie empfandest du bei den Montagsdemonstrationen den Übergang von „Wir sind das Volk” zu „Wir sind ein Volk”?

    Schrecklich. Man sah die geifernden „40 Jahre hamse uns betrogen“-Opfer, die Deutschland- und Reichskriegsflaggen und Helmut Kohl im Fernsehen und wusste, dass sich einmal mehr das aggressiv-Kleinbürgerliche durchsetzen wird. Mit allen Konsequenzen, wie man wenig später sehen konnte.

    Demokratieerfahrungen im vereinten Deutschland. Rechtspopulisten, besorgte und Wutbürger beanspruchen den Begriff „Wir sind das Volk“ jetzt für sich. Welche Assoziationen gehen für dich damit einher?

    Natürlich sind sie das Volk. Wir sollten uns von der romantischen Vorstellung verabschieden, dass „das Volk“ irgendwie gut ist. Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus gehören zum Kapitalismus wie das Amen in der Kirche. Die zivilisatorische Decke ist extrem dünn und zerreißt bei der kleinsten Kleinigkeit sofort und die Leute drehen durch. Verschärfen sich die systemimmanenten Konkurrenzsituationen holt der Kleinbürger zusammen mit seiner Frau Mistgabel und Fackel raus und rückt bei den Nächstschwächeren an, die er als Schuldige an der eigenen Misere ausmacht. Zur Not tuns auch die Juden, die an allem Schuld sind. Oder die USA. Ekelhaft.

    Ab 1989 wurden Mauern eingerissen und Grenzen abgebaut. Jetzt werden diese wieder aufgebaut. Wie nimmst du das wahr? Wie fühlt sich das für dich an?

    Den Menschen kommen durch die herrschenden Zustände grundlegende Skills abhanden. Solidarität zum Beispiel. Durch die individuellen Konkurrenzkämpfe ist jede*r auf den eigenen Vorteil bedacht, der zur Not mit einer Mauer gesichert werden muss.
    Dazu kommt, dass die Welt im Spätkapitalismus immer unübersichtlicher wird. Globalisierung, Waren- und Geldströme, Nektarinen mitten im Winter. Die Menschen wollen Eindeutigkeit und Übersichtlichkeit. Die gibts aber nicht.

    Was können wir unseren nächsten Generationen als Erinnerungskultur, Auswertung und Aufarbeitung der DDR-Geschichte und unserer Historie ohnehin mit auf den Weg geben? Was können wir, was kann jeder selbst aus der Geschichte lernen?

    Dass man nie hinter den eigenen Anspruch, gesellschaftlich emanzipatorisch und menschenfreundlich zu handeln, zurückfallen darf. Menschenrechte und Demokratie gelten entweder für alle oder sie gelten für niemanden. Dass es nicht um „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ geht, sondern darum, Paläste für alle zu schaffen.
    Dass man trotz falsch eingerichteter Zustände nicht zwangsweise auch ein Arschloch sein muss und dass Meinungsfreiheit und das Recht auf Iron Maiden Errungenschaften sind, die zu verteidigen es wert sind.

    HENDRIK DOMRÖS

    Hendrik Domrös, geboren in den 70ern, die 80er gut überstanden, auch ohne Westgeld (ging!), dafür 1989 Kreispokalsieger im Fußball, in den 90ern als Fliesenleger, in der Behindertenhilfe, als Musikant und als Studentenimitator tätig, 2000 das Roskilde-Festival überlebt, 2003 Latinum, danach philosophische Tätigkeiten im Bereich der bierbegleitenden Gastronomie, seit Ende der 00er Jahre unterwegs als Bildungsreferent, Maidenpädagoge, Kritiker und Lebemann, am 25.12.2075, pünktlich zum 100. Geburtstag von Iron Maiden, Ende der Biografie, Lebensmotto: „Keep away from Idiots!“ (Lemmy Kilmister)

    Im Buch „1989 – Lieder unserer Heimat“ schreibt Hendrik Domrös über: „KEIN POPPERSCHMALZ ODER SYNTHESIZER Als das Kinderzimmer zum Stahlwerk wurde“ www.1989-unsere-heimat.de/buch-lieder-unserer-heimat

  • „GO OHIO – DER ERSTE FLUG IN DER FREIHEIT 1993“ VON ROMAN SCHULZ

    „GO OHIO – DER ERSTE FLUG IN DER FREIHEIT 1993“ VON ROMAN SCHULZ

    BEITRAG VON ROMAN SCHULZ

    zum Buch „1989 – Lieder unserer Heimat”

    Go Ohio – der erste Flug in der Freiheit 1993

    Nach der 83er Flugerfahrung folgte eine zehnjährige Flugpause, bis meine Frau die Möglichkeit bekam, an einem Sommersemester an der Ohio University in Athens teilnehmen zu können.

    So kam ich auf die Idee, für die letzten zwei Wochen selbst einen Privattrip ins Amiland, finanziell und programmatisch getrennt, zu machen. Es wurde unkomplizierter als in typisch deutscher Denkweise vermutet. Daggi rief kurz nach ihrer Ankunft aus Ohio an, dass eine Übernachtung in einem preiswerten Studentenzimmer einschließlich Mensaverpflegung möglich wäre. Mit dem Tag, an dem ich das Flugticket von American Airlines in der Hand hielt, hatte mich das Amerikafieber vollständig gepackt. Der alte Plattenspieler dudelte endlos eine meiner Lieblingsplatten, Supertramps „Breakfast in Amerika“: … take a Jumbo, across the water, like to see America … Schnell noch einen flüchtigen Blick in Kerouacs „On the road“, die alte Levi’s-Jeans und Shirts sowie Turnschuhe bereitgelegt und den notwendigen Papierkram erledigt. Zum großen Glück hatte ich irgendwann Ende 1992 einen Reisepass beantragt, denn sonst wäre es zeitlich eng geworden. Und dann kam einfach diese unglaubliche innere Freude auf den ersten richtigen Flug, ausgerechnet über den großen Teich nach Amerika. Der Abflug erfolgte wieder von Berlin, aber vom westlichen Tegel. Neue Zeit, neue Welt, der Check-in nicht wie 1983.

    „Ticket und Pass bitte, diese Erklärung bitte ausfüllen, den Koffer checken wir gleich nach Columbus durch. Zu Gate 18A bitte, angenehme Reise und guten Flug“. Eine fast relaxte Atmosphäre herrschte vor. Ich wartete in der Lounge zwischen Geschäftsreisenden, und durch die Glasfenster konnte ich den Flieger sehen. Statt einer IL-62 erwartete mich eine Boing 767 Luxury Liner und ein Zehn-Stunden-Flug nach Chicago. Der Flieger war riesig, einfach beeindruckend, wie er dastand mit seiner in der Sonne grell strahlenden polierten Metalloberfläche und der Amerikafahne am Heck. „Willkommen an Bord, meine Damen und Herren, es begrüßt Sie Flugkapitän Simson und seine Crew. Wir wünschen einen angenehmen Flug. Nach einer Erfrischung reichen wir ein Menü. Möchten Sie kanadischen Lachs oder lieber englisches Beef? Zum Lachs empfehlen wir Chardonnay, aber Rotwein oder Bier auch kein Problem. Kaffee und Tee kommen später und selbstverständlich gibt es vor der Landung ein Sandwich. Weitere Wünsche – push the button“.

    Am Nachmittag erreichte ich Chicago und das erste Bild von Amerika war der blanke Wahnsinn. Seeseitig drehte der Flieger über den Lake Michigan direkt an der Skyline von Chicago-Downtown vorbei, strahlend blauer Himmel – ein Werbevideo hätte nicht besser sein können. Der Umstieg in Chicago verlief perfekt. Mit der Hochbahn sowie über kilometerlange Laufbänder und endlose Gänge erreichte ich nach einer dreiviertel Stunde im Sauseschritt das nationale Terminal. Daggi informierte mich, wenn ich mich in Chicago beeilen würde, könnte ich unter Umständen einen Flug eher nehmen als gebucht. Dann bräuchte ich keine vier Stunden zu warten. Glück gehabt, der Flieger war halb leer und die Umbuchung kein Problem. Fliegen in Amerika ist wie Straßenbahnfahren in Leipzig. In Columbus traf ich am Abend nach 15 Stunden ein. In dem Flughafenhotel ergriff mich ein bärenartiger Tiefschlaf. Am nächsten Morgen ging es weiter direkt nach Athens. Daggi war aber zu einem mehrtägigen Kurztrip nach Washington aufgebrochen. Ich hatte keine Lust, die gesamte Zeit in dem kleinen Ort Athens zu verbringen, also besorgte ich mir ein Wochenticket für den Greyhoundbus. Aber die Reise nach New Orleans ist eine andere Geschichte.

    Im Buch „1989 – Lieder unserer Heimat“ schreibt Roman Schulz über: „NEVER-COMEBACK-AIRLINES Prag 1983“, die Vorgschichte von „GO OHIO“ www.1989-unsere-heimat.de/buch-lieder-unserer-heimat